Die Differenz, die Gerechtigkeit, das Unbekannte
Über die Notwendigkeit, die Postmoderne zu redigieren
Mark Terkessidis
Obwohl Jean-Francois Lyotard zum Zeitpunkt seines internationalen Durchbruchs ein gestandener Philosoph im mittleren Alter war, besaß er eine ungeheure Geschicklichkeit in der Benutzung und Aneignung von sehr einprägsamen Begriffen: »Intensitäten«, »das Immaterielle« resp. »Immaterialien«, »Widerstreit« und vor allem »Postmoderne«. In Deutschland wurde zudem der Titel einer Aufsatzsammlung, Das Patchwork der Minderheiten, zu einer Art Bonmot zur Beschreibung jener Postmoderne - obwohl der Titel gar nicht von ihm stammte, sondern vom Verlag Merve.
Kurz nach der Ausstellung über »Immaterialien« im Frühjahr 1985 im Beaubourg in Paris gab es in Großbritannien sogar eine Band mit dem Namen »It's immaterial«. Die hatte einen mittleren Hit mit dem Stück Driving away from home. Das Stück handelt vom Aufbrechen und fordert gleich zu Beginn auf: »Hey, now just get in«. Jemand will also weg von zuhause, »without a care in the world«. wie es im Refrain heißt. Und doch handelt das Stück bloß von einer sehr begrenzten Reise, von »30 miles or more«, und schließlich wird klar, daß der große Aufbruch nur nach Manchester führt, wo der Protagonist geboren ist, oder nach Newcastle, wo er Leute kennt.
Ob das Stück Jean-Francois Lyotard gefallen hätte? Es ist unwahrscheinlich, daß er es kannte. Zudem gab es 1986 bereits mehrere Lyotards mit durchaus unterschiedlichen Positionen. Gemocht hätte es vermutlich der Lyotard der frühen 70er Jahre, der schwärmerische Gegner des Subjekts. »Das erste, was wir vermeiden müssen, meine Freunde«, schrieb er in der Ökonomie des Wunsches, »ist, uns außerhalb plazieren zu wollen. Wir wandern nicht aus, wir bleiben am selben Platz, wir okkupieren das Feld der Zeichen...« Und kurz darauf: »Verstehen, intelligent sein, ist nicht unsere Hauptleidenschaft. Wir wollen lieber in Bewegung versetzt werden«. Nach einem Jahrzehnt, in dem Lyotard als Mitglied der Gruppe »Socialisme ou barbarie« strikter Anhänger des Materialismus war, verlagerte er seinen Kampf auf das Feld der Zeichen. Doch Lyotard verweigerte sich dabei der Interpretation - ihn interessierten die Bewegungen, welche die Zeichen auslösten.
Im Kampf, im Leben, in der Kunst sollte der Fokus sich vom Paar »Intention«/»Interpretation« auf das Paar »Intensität«/»Bewegung« verschieben. Als Helden jener Verschiebung galten Lyotard »die Menschen der Steigerung, die Herren von heute: Außenseiter, experimentierende Maler, Popkünstler, Hippies und Yippies, Parasiten, Verrückte, Eingesperrte«. Es war die Zeit der Wiederentdeckung des Sinnlichen und Konkreten - auf halbem Weg zwischen der US-Literaturkritik der mittleren 60er und der Architekturtheorie der späten 70er, frühen 80er Jahre. Bereits 1964 hatte sich Susan Sontag gegen Formen der Interpretation durch das »Außen« gewandt, die mit der Hilfe vor allem von Marx und Freud das Werk auf einen Inhalt »hinter« dem Werk reduzierte. Sie plädierte für die Wertschätzung von »sensuous immediacy« und »appearance«. »What is important now«, schrieb sie, »is to recover our senses. We must learn to see more, to hear more, to feel more In place of hermeneutics we need an erotics of art«. 1978 warf Charles Jencks der modernen Architektur ihre »Einwertigkeit« vor - die pauschale Ablehnung des Hergebrachten, einen Schematismus in der Form sowie einen Mangel an Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen.
Der Architekt Paolo Portoghesi sprach von einer »neuen Sensibilität«: »An die Stelle der strengen und prophetischen Haltung der Meister und vor allem der Anhänger der Modernen Bewegung trat eine ironische, tolerante, von grenzenloser Neugier gegenüber dem schon Existierenden«. Die letzte Bemerkung deutet darauf hin, daß die Postmoderne eigentlich nicht in erster Linie Pogramm war, sondern Methode. Das betraf zunächst die erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber der Erscheinung der Dinge und Werke - sie bezogen ihre Relevanz eben nicht nur aus ihrer angeblich dahinter zu entdeckenden Substanz, sondern aus dem kommunikativen Gehalt ihrer Oberfläche: wichtig war nicht die Ableitung des Werkes von einem Außen, sondern sein Äußeres. Die Oberfläche selbst wurde als Zeichen, Symbol, Text gesehen und gelesen, als Gegenstand, der eine sinnliche Wirkung entfaltete oder »sprach«. Ferner sollte die politische, künstlerische, architektonische Gestaltungskraft nicht mehr revolutionär sein, sondern evolutionär. Sie sollte das Bestehende aufnehmen und weiterentwickeln, im Sinne der realen Vielfalt und des tatsächlichen Gebrauchs durch die Menschen.
Das Außen / das Unbekannte
So kann man also mutmaßen, daß der Lyotard der frühen 70er Driving away from home durchaus geschätzt hätte, ein Stück, das mit seiner gehend rhythmischen Struktur in Bewegung versetzte, ohne aber in ein Außen zu wollen und zu kommen. Die Bewegung hatte sich auf die Ebene der Ästhetik verlagert - sie war weniger Marxlektüre und Arbeiterkampf als vielmehr Erweiterung des Spielraums von Libido und Sensibilität. Doch am Ende der 70er Jahre hätte Lyotard das Stück vielleicht doch mißfallen können. 1979 erschien La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, auf Deutsch: Das postmoderne Wissen. Eigentlich ein Bericht für den Universitätsrat der Regierung des kanadischen Bundesstaates Québec über die Lage des Wissens in den höchstentwickelten Gesellschaften, wurde diese Gelegenheitsarbeit bald zu einem der Standardwerke zum Thema Postmoderne. Der letzte Satz lautete: »Es zeichnet sich eine Politik ab, in welcher der Wunsch nach Gerechtigkeit und der nach Unbekanntem gleichermaßen respektiert sein werden«. Die Frage ist: Wie verhält sich dieses Unbekannte zu dem von einem früheren Lyotard kritisierten Außen? Ist das Unbekannte nicht per se außen, weil es nicht zum Bereich der bereits durchschrittenen und verstandenen Welt gehört?
»Es gibt kein Außen in diesem Sinne, nicht das Andere des Kapitals, sei es die Natur, der Sozialismus, das Fest oder was weiß ich.« Möglicherweise also ist das Außen schon allzu bekannt. Zwar hat Marx die Zukunft im »goldenen Zeitalter« niemals genauer skizziert, doch in der Folge brachte die marxistische Schule tatsächlich bestimmte Vorstellungen über ein Außen hervor, das vor und nach dem Kapitalismus situiert wurde - in der größeren Natürlichkeit der Menschen der Feudalzeit, die von der Warenförmigkeit absorbiert wurde, oder in der Befreiung von der Entfremdung in der klassenlosen Gesellschaft. Tatsächlich war es Lyotard selbst schwer gefallen, sich von den Fixpunkten des Marxismus zu verabschieden. Als es 1964 aufgrund der zunehmend ketzerisch daherkommenden Gedanken von Cornelius Castoriadis über den Marxismus in der Gruppe »Socialisme ou barbarie« zu einem Schisma kam, da schlug sich Lyotard bekanntlich auf die Seite der Orthodoxen in der Gruppe, die unter dem Namen »Pouvoir Ouvrier« einen Neubeginn unternahmen. Dabei waren ihm die Ideen von Castoriadis offenbar näher, der ja als Movens der Revolution nicht mehr die Objektivität der Produktionsbedingungen, sondern die kritische Subjektivität der Individuen ausmachte.
Seine Wahl hatte zweifellos mit der Solidarität zu seinem Freund Pierre Souyri zu tun, aber dennoch war diese Entscheidung mehr als ein schlichter »Lapsus«, dem »keine besondere Bedeutung« zukommt, wie er später in seinen Erinnerungen schreibt. Man kann das Außen nur mit einer solchen Verve aufgeben, wenn man es zuvor sehr geliebt hat. Im übrigen hat Lyotard grundsätzliche Begriffe von Marx durchaus beibehalten. Vor allem jenen Begriff, der die Konfliktform der Postmoderne definiert. »Was ich hier différend nenne, hat in der marxistischen Tradition einen berühmten Namen, der Anlaß zu vielen Mißverständnissen gibt: er lautet Praxis - der Name par excellence, den das theoretische Denken fehldeutet.«
Der Marxismus, vor allem seine vulgäre Variante, kannte also das Außen sehr gut, zu gut. Bestimmte Vertreter des Marxismus verfuhren mit dem Unbekannten wie Columbus mit der Entdeckung der Eingeborenen: ihr Anblick löste keine Freude aus, nicht einmal Interesse - sie wurden taxiert als Objekt, das in Besitz zu nehmen war. Ihre Subjektivität wurde übergangen in einer schlichten Erklärung jener Inbesitznahme des Landes für die Krone, welche die Spanier ausschließlich in ihrer Sprache kurz nach der Landung verlasen. Insofern sind das Unbekannte und das Außen nicht deckungsgleich. Eine Rückkehr in die Stadt der Geburt, ins Innere der eigenen Gesellschaft kann mehr Unbekanntes zutage fördern als die Auswanderung in eine Fremde, die einem in der Theorie schon immer gehört hat.
Erzählungen / Performativität
Das Außen wird in »Das postmoderne Wissen« von den »großen Erzählungen« repräsentiert. Das Buch basiert auf einem eleganten Grundgedanken: Seit Beginn der Moderne wird Wissenschaft letztlich mit Wissen gleichgesetzt. Lyotard hingegen betont, dass Wissen und Wissenschaft nicht identisch seien. In allen Gesellschaften habe man sich mittels Erzählungen über sich selbst verständigt. Solche Erzählungen definieren »die Gruppe pragmatischer Regeln, die das soziale Band ausmachen«. Nun behauptete Lyotard, daß die Erzählungen in der Moderne keineswegs verschwunden seien, sondern dazu gedient haben, den Anspruch der Wissenschaft zu legitimieren, das »wahre Wissen« dazustellen.
Lyotard nimmt mit dieser Konzeption zwei Fäden des Antipositivismus der 70er Jahre auf - zum einen die Aufwertung der vormals als »primitiv« deklarierten Wissensformen und zum anderen die erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber den »Geschichten« als Organisationsprinzipien von Alltagswissen. Er unterscheidet zwei »große Erzählungen«, eine »emanzipatorische«, in der die Wissenschaft als Mittel zur Befreiung des Menschen fungiert, und eine »spekulative«, in der die Wissenschaft bei der Entfaltung des Geistes selbst hilft. Nun war die Kontinuität des »narrativen Wissens« elegant gestrickt, ebenso der Nachweis, daß die Wissenschaft einer Legitimation bedarf, die in ihr selbst wiederum ein »Nicht-Wissen« ist. Doch bei einer aktuellen Lektüre erscheint die Darstellung der Erzählungen wenig überzeugend.
Tatsächlich hätte Lyotard sie auch die »französische« und die »deutsche« Erzählung nennen können, denn als prototypische Situation gelten die Schulpolitik der Dritten Republik und die Gründung der Berliner Universität. Allerdings wirkt die Unterscheidung dann nahezu klischeehaft. Müßte nicht auch eine Erzählung erwähnt werden, in der die Wissenschaft dazu dient, das Volk als (Bluts-)Gemeinschaft zu begründen, oder eine, in welcher der »Bund«, eine Form des Zusammenlebens in Verschiedenheit, als implizite Basis amtiert? So beeilte sich Lyotard auch, die Erzählungen als Idealtypen darzustellen, die sich in der Realität oft in weitere große Erzählungen wie etwa den Marxismus mischen. Gemeinsamkeit aller modernen Erzählungen und Element ihrer Modernität im Gegensatz etwa zu den Mythen ist die Tatsache, daß sie »die Legitimität... in einer einzulösenden Zukunft, das heißt in einer noch zu verwirklichenden Idee« verorten.
Zur Kritik der Konzeption der Erzählungen ist es kaum gekommen, denn im Vordergrund bei der Rezeption des Buches stand eine andere Behauptung Lyotards: »Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren«. Die ganze philosophische Argumentation muß hier nicht nachvollzogen werden, jedenfalls ist es von heute aus gesehen evident, daß die genannten Legimitationsmodelle an Erklärungsmacht verloren haben - nicht zuletzt durch Entwicklungen in der Wissenschaft selbst. Obwohl immer noch vielfach Geschichten von Befreiung und Ideal zu hören sind, sind diese Prinzipien als fixe Bezugspunkte, als Außen, nicht mehr auszumachen - höchstens in Form einer Leerstelle. Schon damals schrieb Lyotard: »Die Sehnsucht nach der großen Erzählung ist für den Großteil der Menschen selbst verloren.« Freilich »folgt daraus keineswegs, daß sie der Barbarei geweiht wären«. Die Nicht-Erfüllung der großen Erzählung mündet nicht, wie noch der Name der Gruppe »Socialisme ou barbarie« suggeriert hatte, in die Barbarei. »Was sie daran hindert, ist ihr Wissen, daß die Legitimierung von nirgendwo anders kommen kann als von ihrer sprachlichen Praxis und ihrer kommunikationellen Interaktion.«
Doch bevor Lyotard diesen zunächst etwas kryptisch anmutenden Gedanken weiter ausführt, widmet er sich der damals für ihn aktuellen Form der Begründung der Wissenschaft, nämlich der Legitimierung durch die »Performativität«. Seiner Meinung nach hatte sich nicht zuletzt aufgrund der technologischen Entwicklung ein »Sprachspiel« zur Begründung der Wissenschaft herausgeschält, »wo der Einsatz nicht die Wahrheit, sondern die Performativität ist, das heißt das bessere Verhältnis von Input/Output«. Tatsächlich ist diese Behauptung so etwas wie die große Erzählung des postmodernen Wissens selbst. Im Grunde strickt Lyotard hier einen Gedanken weiter, den er zuvor schon in seinem Aufsatz Energieteufel Kapitalismus formuliert hatte. Dort führte die Zurückweisung des Außen gleichsam zu einer Verabsolutierung der Immanenz des bestehenden Systems, des Kapitalismus. »Ganz gleich, welchen Namen er sich zulegt (Nation, Zivilisation, Zukunft, neue Gesellschaft), er hat doch nur eine Identität: Kapital.« Ein letztes, »das einzig unantastbare Axiom« beherrsche jenes System: der Tauschwert, »das Wertgesetz: gibst du mir, so gebe ich dir«. Die Filiale dieses Axioms im Bereich der Wissenschaft ist eben die Performativität. Allerdings formieren das Kapital und die Performativität selbst keine Erzählung. »Das Kapital«, heißt es 1976, »ist jener Pseudoorganismus, der nicht in der Lage ist, einen Diskurs zu formulieren, der seine eigene Wahrheit begründet«.
Voraussetzung zur Bestimmung des optimalen Verhältnisses von Input und Output war der Determinismus - doch diesen sah Lyotard ebenfalls unter Druck. Tatsächlich hatten verschiedene Entwicklungen in der Mathematik und den Naturwissenschaften das Modell der Kausalität in Frage gestellt und den Fokus eher auf die Instabilität, gar das Chaos verschoben. Lyotard wies die Performativität als Legitimation zurück, da sie stets im Dienst einer Verbesserung der Administration von Herrschaft stehe, aber eben auch, weil ihre Voraussetzungen nicht funktionierten. Er glaubte, daß die »postmoderne Wissenschaft«, welche »die Theorie ihrer eigenen Entwicklung als diskontinuierlich, katastrophisch, nicht zu berichtigen, paradox« konzipierte, ein Legitimationsmodell nahelege, das »keineswegs das der besten Performanz ist, sondern das der als Paralogie verstandenen Differenz«.
Empirisch steht nicht nur die Konzeption der beiden Erzählungen, sondern auch die Behauptung von ihrer Ablösung durch die Performativität auf höchst wackeligen Füßen. Lyotard setzt Tauschwert und Effizienz absolut, ohne sich dabei selbst um Differenzen zu scheren, darum, daß es Überreste historisch vergangener politischer Formen gibt, daß der Gebrauchswert keineswegs völlig verschwunden ist, daß erhebliche nationale Unterschiede bei der Definition von Tausch und Effizienz existieren und daß es enorme »Ungleichzeitigkeiten« in Gesellschaft und Forschung gibt. Zudem stellt sich die Frage, warum das Kapital eigentlich immanent bleibt, warum es weder eine Erzählung braucht noch eine begründen kann. Wie aber verhält es sich mit der von Max Weber angesprochenen »protestantischen Ethik«, der Idee des homo oeconomicus oder dem Diskurs der natürlichen menschlichen Gier? Lyotards recht einfältige Vorstellungen vom Kapitalismus bilden einen permanenten Subtext seiner Arbeiten bis in sein letztes Buch über »Postmoderne Moralitäten« hinein - ohne je belegt oder entwickelt zu werden.
Gerechtigkeit / Konsens
Trotz den offenkundigen theoretischen Schwächen hat Lyotard der Orientierungskrise jener condition postmoderne damals einen anregenden Ausdruck verliehen - im Sinne der von ihm beschriebenen Wissenschaft, die dazu da ist, Ideen zu veranlassen. Dabei ist es zu bedauern, daß er nicht mehr auf die Praxis geschaut hat, denn immer, wenn er beschreibt, wirkt seine Arbeit sehr aktuell - etwa, wenn er die Datenbanken als »Natur für den postmodernen Menschen« bezeichnet, wenn es um das durch die Möglichkeiten des Computers befeuerte »Recycling« geht, um die Ausdehnung der Universität im Richtung einer »permanente Ausbildung« oder das Ende des allwissenden Professors, dem er freilich etwas vorschnell die Grabglocke geläutet hat.
Für die Wissenschaft hält Lyotard schließlich fest, daß sie - zumindest in der Theorie - eigentlich ein »Gegenmodell des stabilen Systems« darstellt: »Jede Aussage ist festzuhalten, sobald sie einen Unterschied zum Bekannten erhält, sobald sie argumentier- und beweisbar ist. Sie ist ein Modell eines offenen Systems, in welchem die Pertinenz der Aussage darin besteht, Ideen zu veranlassen, das heißt andere Aussagen und andere Spielregeln. Es gibt in der Wissenschaft keine allgemeine Metasprache.« Insofern stellt sich umgekehrt die Frage, welche Erzählung die Wissenschaft an die Gesellschaft übertragen könnte. Ist ihr Gegenmodell auf die »immensen Wolken sprachlicher Massen, welche die Gesellschaft bilden, anwendbar?«
In seiner Antwort am Ende des Buches deuten sich die Probleme bereits an, die in Der Widerstreit verhandelt werden, seinem philosophischen Hauptwerk. Auf das Ende der großen Erzählungen folgt eben nicht die Barbarei, sondern bestimmte Arten von Kommunikation sorgen weiter für Verbindlichkeit, allerdings lokal - dies wären die Sprachspiele. Zunächst muß die irreduzible »Heteromorphie« dieser Zusammenhänge erkannt bzw. anerkannt werden. Sie lassen sich nicht mehr auf den von Jürgen Habermas geforderten universellen Konsens bringen, und jener Konsens kann als »veralteter und suspekter Wert« auch nicht mehr das finale Ziel des Dialogs sein. Als Ziel bezeichnet Lyotard vielmehr die »Paralogie«, keineswegs verstanden als »Widervernuft«, sondern als jenen Moment, an dem sich die Sprachspiele nicht zur Deckung bringen lassen, an dem es eine unhintergehbare Nichtübereinstimmung gibt.
Während er den Konsens zurückweist, will Lyotard den Gedanken der Gerechtigkeit nicht aufgeben. Eine weitere Frage also ist, wie sich Gerechtigkeit ohne Bezug auf ein Außen sowie ohne einen für alle geltenden Konsens konstituieren kann. Er geht von einer Vielfalt von »lokalen Konsensen« aus, einer »Vielfalt endlicher Metaargumentationen, also raum-zeitlich begrenzter Argumentationen, die Metapräskriptionen zum Gegenstand haben«. Die Metapräskriptionen sind jene Regeln, die vorschreiben, welche Züge in einem bestimmten Sprachspiel als annehmbar erschienen. Die stattfindende Evolution entspricht dabei jener in den sozialen Interaktionen, »wo der zeitweilige Vertrag die permanente Institution in beruflichen, affektiven, sexuellen, kulturellen, familiären und internationalen Bereichen wie in den politischen Angelegenheiten tatsächlich verdrängt«.
Diese Evolution ist »zweideutig«, denn auf der einen Seite wird sie vom System bevorzugt und läßt sich im Bereich des Wissens geschmeidig dem Prinzip der Performativität unterstellen, zum anderen befördert sie die »über die Metapräskriptionen diskutierenden Gruppen«. Zwischen dem System und jenen Gruppen konstruiert Lyotard eine Dichotomie, die erstaunlicherweise an diejenige von Sozialismus und Barbarei erinnert. Als er am Ende des Buches noch die Auswirkungen der »Informatisierung« auf jene Evolution diskutiert, da stellt er fest: sollte die Informatisierung nur dem System des Marktes zugute kommen, dann bringe dies »unausweichlich den Terror mit sich«. Um das zu verhindern, müsse die Öffentlichkeit »freien Zugang zu den Speichern und Datenbanken erhalten«, damit die erwähnten Gruppen »in Kenntnis der Sachlage« entscheiden könnten.
Minderheiten / Widerstreit
Es ist keine Frage, daß Lyotard auf Beobachtungen zurückgreift, die er in den mittleren 70er Jahren gemacht hatte. Denn in jenen die Metapräskriptionen diskutierenden Gruppen lassen sich unschwer die »Neuen Sozialen Bewegungen« wiedererkennen, auf die er sich zu jener Zeit berufen hatte: »Wichtige neue Gruppierungen treten auf, die in den offiziellen Registern bisher nicht geführt wurden: Frauen, Homosexuelle, Geschiedene, Prostituierte, Enteignete, Gastarbeiter...; je stärker sich die Kategorien vermehren, desto komplizierter und schwerfälliger wird deren zentralisierte Verwaltung; dann wächst die Tendenz, all seine Geschäfte selbst in die Hand zu nehmen, ohne all die Vermittlungen des ZENTRUMS zu passieren...« Diese Bewegungen scheinen das gesellschaftliche Ganze neu zu definieren und werden für Lyotard zu einer Perspektive: »Man kann auch sagen: es gibt nur die Minderheit, es gibt Minderheiten... Minderheiten ohne Mehrheit...«
Wie gesagt, Lyotards Ideen vom Kapitalismus, von der Performativität oder hier von Zentrum sind vulgär, aber möglicherweise hat gerade diese theoretische Ausklammerung dazu geführt, dass er die Prozesse im Innern so genau betrachten konnte - eben jene ununterbrochenen Bewegungen der Vielheit. Hätte er die Kapitalismusanalyse ernsthaft vorangetrieben, dann wäre er möglicherweise doch Cornelius Castoriadis gefolgt, mit dessen nachmarxistischen Entwurf einer neuen Idee der Vergesellschaftung: der Autonomie. Oder er hätte im Rahmen der sogenannten Regulationstheorie untersucht, wie die Anliegen der »Neuen Sozialen Bewegungen eingeflossen sind in das neue Arrangement des »Postfordismus«. Oder er wäre dem Weg Antonio Negris gefolgt, der zuletzt gemeinsam mit Michael Hardt die ja auch von Lyotard thematisierte »Multitude« im Regime des alles durchdringendem »Empire« zum neuen revolutionären Subjekt ausgerufen hat.
Zu Beginn hat auch Lyotard suggeriert, dass jenes »patchwork aus lauter minoritären Singularitäten« als Bewegung aufzufassen wäre, die den Kapitalismus - das System, das Zentrum - von innen aushöhlen könne. Doch von den 70er Jahren an interessiert er sich mehr für die Prozesse des Nicht-Verstehens, für das Niemandsland der Kommunikation in einer »Vielheit, die sich nicht zusammenfügen läßt«. Teile der Bedeutung dessen, was im La condition... als »Paralogie« bezeichnet wird, tauchen zuvor bereits in dem Begriff »Torsion« auf. Lyotard stellt nämlich fest, »daß jedes Dispositiv, weil es nur durch ein anderes betrachtet werden kann (zum Beispiel durch die Figur des wissenschaftlichen Diskurses) immer nur irgendwie verdreht, irrational (aber Rationalität gibt es nicht) erscheinen kann«.
Wie so oft in der französischen Philosophie der Nachkriegszeit, bleibt vieles ungeklärt - etwa, was genau Dispositive, Sprachspiele, Diskurse sind. Doch stets bleibt das Denken eng an den praktischen Problemen. 1983 spinnt sich die Theorie weiter zum »Widerstreit - einem Begriff, der sehr deutlich aus einer minoritären Perspektive formuliert ist, wobei aber nicht zwangsläufig eine Mehrheit als Gegenüber konzipiert wird. Der Ausgangspunkt des Buches ist die noch heute notorische Behauptung von Robert Faurisson, daß die Shoah nicht bewiesen werden kann. »Widerstreit möchte ich den Fall nennen, in dem ein Kläger seiner Beweismittel beraubt ist und dadurch zum Opfer wird... Zwischen zwei Parteien entspinnt sich ein Widerstreit, wenn sich die Beilegung des Konflikts, der sie miteinander konfrontiert, im Idiom der einen vollzieht, während das Unrecht, das die andere erleidet, in diesem Idiom nicht figuriert.« In seinem Willen, ein Konzept der Gerechtigkeit für die Vielheit zu finden, ist Lyotard tatsächlich höchst aktuell. Unterdessen ist es eine geläufige Diagnose geworden, festzustellen, daß die Konflikte der Gegenwart sich um das Thema Anerkennung drehen. Das wird oft vulgär so übersetzt, als gehe es um die Anerkennung einer Substanz des Partikularen. Wenn Lyotard jedoch den Akzent auf die Paralogien, die Torsionen und den Widerstreit legt, dann geht es nicht um die Anerkennung von substantiellen Identitäten, sondern um die Auslegung des Einen im Anderen.
Daß soziale oder ethnische Gruppen Konstruktion seien, das wurde von linken Gruppen in den 90er Jahren wie ein Mantra wiederholt - und ist heute Konsens in vielen »Studies«-Programmen an deutschen Hochschulen. Doch die Feststellung allein ist banal. Die von Lyotard erwähnten »Frauen, Homosexuelle, Geschiedene, Prostituierte, Enteignete, Gastarbeiter« sind nicht bloß Konstruktionen, sondern sie leben real in einer Praxis, die sie als Angehörige jener Kategorien reproduziert, sowie in einem Widerstreit, in welchem sie sich selbst als Angehörige jener Gruppen behaupten müssen. Deleuze und Guattari haben dieses Verhältnis ausgedrückt, indem sie den Charakter der Minderheiten als permanentes Werden beschrieben.
Der Widerstreit - das hat Homi Bhabha, ohne den Begriff zu verwenden, in The Location of Culture gezeigt - ist in den kulturellen Artikulation der Minderheit stets präsent: in den gelungensten Formen der Assimilation ebenso wie in der emphatischsten Rückkehr in ein eigentliches So-Sein, in Geschichte oder Tradition. Die Behauptung, daß Gruppen konstruiert seien, sagt noch nichts über die unendliche Vielfalt der »moralischen Ökonomien« (E.P. Thompson), der Widerstandsweisen oder kulturellen Ausdrucksformen. Tatsächlich sind »hybrid« auch die gegenemanzipatorischen Bewegungen etwa der islamischen Fundamentalisten, die eine teilweise absurde Schwundform von Tradition in westliche politische Prinzipien hüllen. Viele Bewegungen passieren heute das von Lyotard beschriebene Zentrum in Großbuchstaben und nehmen ihre Geschäfte selbst in die Hand, auch weil ihnen nichts anderes übrig bleibt: Einmal ist das Zentrum schwach oder verloren, ein andermal mit dem Nachlassen der Repression durch das Zentrum die Bindekraft verloren gegangen, manchmal zieht sich das Zentrum aber auch zurück und erwartet Selbstorganisation in der sogenannten Zivilgesellschaft. Dies führt zu einem Zunehmen der »horizontalen Konflikte« zwischen lauter Minderheiten, die oftmals einen sehr unklaren Anspruch auf Repräsentation und Ordnung haben.
Kämpfe um Anerkennung sind letztlich unendlich führbar, sofern der universelle Rahmen, der »große Andere«, wie Lacan sagen würde, zurückgewichen ist; denn in diesem Moment finden sie im Register des Imaginären statt. Es bleibt ein ungelöstes Problem, wie eine Gemeinschaft beschaffen sein könnte, die nicht darauf drängt, sich im Spiegel einer nicht-zugehörigen oder gar ausgeschlossen-einbezogenen Gruppe als ganze sehen zu können, sondern welche die Zersplitterung als konstitutiv anerkennt. Wäre das überhaupt möglich? Zwar ist Lyotard aktuell in seiner Formulierung der Konflikte in der Vielheit, doch die schiere Emphase des Minderheitlichen gehört der Vergangenheit an. Es reicht nicht mehr aus, zu fordern, daß die Differenzen gerettet werden müssen in einem Krieg gegen das »Ganze«.
Es braucht irgendeine Form von gemeinsamem Projekt oder gesellschaftlichem Band, um von »Vielheit« überhaupt sprechen zu können. Für heutige Gemeinschaften spielen die Erzählungen von Emanzipation und Ideal tatsächlich keine bedeutende Rolle mehr. Allerdings braucht es weiterhin eine Art von Erzählung, die auf die Zukunft verweist. Die »kleinen Geschichten«, die Lyotard damals in Stellung gebracht hat, sind nämlich vielfach Geschichten über die Vergangenheit, über ein geteiltes Schicksal, über Verlust und Leiden. Darin können sie zutiefst narzistisch sein. Insofern macht es im Dienst der Gestaltung einer Vielheit keinen Sinn mehr, eine gemeinsame Geschichte vorauszusetzen, sondern den Entwurf einer Gemeinschaft der Zukunft anzustreben. Was uns trotz allen Differenzen verbindet, so würde der kleinste gemeinsame Nenner lauten, ist die Tatsache, daß wir auch morgen noch zusammenleben werden, auch wenn es uns nicht immer gefällt.
Nun hat Lyotard nicht nur von der Rettung der Differenzen gesprochen, sondern eine weitere Formulierung angeschlossen: »Zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen.« Die Differenz ist also nicht gegeben, sie muß aktiviert werden. Aber wie? Im Bereich der Ästhetik lassen sich schnell Beispiele finden, deren politische Dimension auf der Hand liegt. Im Tanz etwa, auch in seinen modernen Formen, wurde der behinderte Körper jahrzehntelang als Abweichung von der Norm schlichtweg negiert. Erst die postmoderne Neukonzeption brachte eine andere Bewertung mit sich: die Bewegungsqualitäten von behinderten Körpern wurden nun als Differenz verstanden - als singuläre Ausdrucksmöglichkeiten, die dem »normalen« Tänzer in dieser Form nicht zugänglich sind.
Allerdings ging es dabei nicht darum, bei der Anerkennung dieser Differenzen zu verweilen und sie bloß zu fixieren, sondern neue Formen der tänzerischen Zusammenarbeit zu finden. Diese Bewegungen dürfen nicht Inseln des Authentischen in der plastischen Kunst der »normalen« Tänzer bilden; sondern indem sie Verbindungen eingehen, verändern sie das gesamte Feld - die Entwicklungsmethoden, die Zugangsweisen zur Bühne (auch physisch im Sinne von Barrierefreiheit), die Choreographien und die Bewegungen der nichtbehinderten Tänzer. Nicht das Verstehen, sondern die Bewegung regt jene Veränderungen an. Der Wandel ist nicht die Aufgabe einer humorlosen Pädagogik, sondern vollzieht in jenen spielerischen und parodistischen Formen, die mit dem Begriff »Postmoderne« assoziiert werden.
Deutschland im übrigen hat in punkto Differenz, wenn es um Geschlecht, Sexualität, Behinderung und vor allem Ethnizität geht, nur eine »halbierte Postmoderne« erreicht, wie Erol Yildiz in seinem gleichnamigen Buch nachgewiesen hat. Zwar hat der Philosoph Wolfgang Welsch, so etwas wie der hiesige Verwalter des Themas, die Pluralität als »Herzwort der Postmoderne« bezeichnet, aber er hat sich keineswegs dafür interessiert, daß jene Pluralität in der Bundesrepublik bloß den Bereich der folgenlosen Lebensstil-Praktiken umfaßt. Hierzulande steht die in der Hymne besungene Einigkeit weiterhin der Aktivierung von politisch wahrgenommen Differenzen im Weg - hier sind Normvorstellungen erstaunlich intakt.
Nicht-Darstellbarkeit / Alltagsleben
Die Bewegung also deutet auf etwas Nicht-Darstellbares. Denn was genau dargestellt wird, wissen nur diejenigen, die unbedarft weiter Interpretation betreiben. »Das Postmoderne«, schreibt Lyotard, »wäre dasjenige, das im Modernen selbst auf ein Nicht-Darstellbares anspielt«. Die Ästhetik der Moderne betrachtet er als eine Ästethik des Erhabenen, die dem Rezipienten jedoch aufgrund der Intaktheit ihrer Formen weiterhin Lust verschafft und den Trost gewährt, »die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zu empfinden und zu teilen«. Diese Ästhetik aber bleibe »nostalgisch« - das »wirkliche Gefühl des Erhabenen« sei eines, in welchem sich Lust und Unlust permanent verschränken. In gleicher Weise hatte Sontag erklärt, daß die neue Kunst antihedonistisch sei - sie dehne auf schmerzhafte Weise die Sinne.
»Man erforscht das Vermögen des Empfindens und Phrasierens, des Sätzebildens bis an die Grenzen des Möglichen; man erweitert das Empfindend-Empfindbare und das Sagend-Sagbare; man experimentiert. Eben dies ist die Bestimmung unserer Postmoderne, daß dem Kommentar eine schier unendliche Karriere eröffnet wird.«. Der Verweis auf den Kommentar verdeutlicht noch einmal, daß es nicht um heroische Gesten geht, sondern um das Durcharbeiten bereits vorhandener Materialien. Freilich hat Lyotard kein folgenloses Spiel mit historischen Verweisen gefordert, wie manche Kritiker der Postmoderne auch ihm unterstellt haben. »Du wirst verstehen«, betont er ein wenig enerviert in jener ironisch Postmoderne für Kinder genannten Aufsatzsammlung, »daß das post- von postmodern - so verstanden - keine Bewegung des come back, flash back, feed back, das heißt der Wiederholung bedeutet, sondern einen Ana-Prozeß der Analyse, Anamnese, Anagonie und Anamorphose, der das ursprüngliche Vergessen abarbeitet.«
Zweifellos sind solche Vorstellungen von Ästhetik als antihedonistischer Untersuchung der Regeln problemlos anwendbar in der Literatur, der Musik und der bildenden Kunst, und Lyotard hat sie etwa an Künstlern wie Karel Appel, Daniel Buren, Gianfranco Baruchello oder Jacques Monory erläutert. Tatsächlich hat La condition postmoderne seinen größten Widerhall auf dem Feld der Ästhetik gefunden, obwohl Lyotard betonte, daß er den Begriff »Postmoderne« in einer ganz anderen Bedeutung als seine Vorgänger in Literatur- und Architekturkritik verwendet habe und seine Arbeit »stark wissenssoziologisch und epistemologisch« geprägt gewesen sei. Tatsächlich orientiert sich sein Buch aber deutlich weniger an der Tradition und den empirischen Grundlagen der Wissenschaftstheorie als vergleichbare Werke, etwa Thomas Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen von 1962 oder Paul Feyerabends Wider den Methodenzwang (1975).
Oben ist bereits angesprochen worden, daß Lyotards Denken durchaus eingebettet war in andere Kontexte der Postmoderne. Die Generalthemen des postmodernen Wissens, die Paralogien, die Komplexitäten, die Vielheit, hatten insbesondere im Diskurs über Architektur seit den 60ern eine immense Rolle gespielt. In einem Manuskript von 1962 spricht Aldo van Eyck davon, daß die Moderne sich an falschen Alternativen abgearbeitet habe. Es gehe vielmehr darum, in einem Raum des »in-between«, der etwa durch die Metapher der Türschwelle oder des Atmens verdeutlicht werden könne, sogenannte Zwillingsphänomene zur Entfaltung zu bringen, zusammengehörige Erscheinungen wie »individuell / kollektiv«, »der Einzelne / die Familie«, »Wenige / Masse«, »Teil / Ganzes«, »innen / außen«, »Erhalten / Verändern« etc. Robert Venturi forderte eine Architektur, die Komplexität und Widerspruch zu gestalten wisse, ohne dabei subjektiv-expressiv oder pittoresk zu sein. An die Stelle von »Entweder-oder« sollte »Sowohl-als-auch« treten; das Ziel war eine spannungsreiche Mannigfaltigkeit.
Bei diesen Beschreibungen liegt die Idee des Nicht-Darstellbaren nahe. Doch der Rezipient, der die Frage nach der Intention aufgegeben hat und dem die Form keinen Trost mehr spendet, dieser »bewegte Rezipient« muß keineswegs bei jener Lust-Unlust verbleiben, welche die Untersuchung der Regeln bei ihm letztlich passiv auslöst, sondern er ist durch die kommunikativen Oberflächen aufgerufen zum Assoziieren. Nach dem Ende der Suspendierung der großen Erzählung lobte Lyotard Kunstwerke als assoziative Verknüpfung von kleinen Geschichten, was auf der Rezipientenseite endlos fortsetzbar erschien. Van Eyck wiederum träumte von der Herausbildung eines neuen Sensoriums, einer »in-between awareness«, die er als »ability to detect associative meaning simultaniously« verstand.
In Lernen von Las Vegas, wo ja für einen neuen Symbolismus plädiert wurde, beschränken die Autoren allerdings die Assoziationen auf die Wirkung der historischen Verweise. Das Bild des unter anderem von Robert Venturis geplanten Guild House, so wird dort erklärt, entstehe unter Beteiligung der explizit angesprochenen Erinnerungen. Aber wessen Erinnerungen werden dort angesprochen? Charles Jencks sprach von einem »doppelten Code«. Architektur sei eine Verbindung von modernen Techniken und lokalen Traditionen, »mit dem Ziel, eine Architektur zu begründen, die mit dem Publikum und einer bestimmten Gruppe von Minderheit, im allgemeinen mit anderen Architekten, kommuniziert«.
Doch wie assoziiert das »Publikum«, das die architekturtheoretischen Verweise nicht kennt? Was wäre ein »populäres Assoziieren«? Venturi, Scott-Brown und Izenour hatten die »Einbeziehung des Gegensätzlichen« auf dem Strip von Las Vegas entdeckt und gemäß der bereits erwähnten postmodernen Neugier für das Bestehende den Versuch unternommen, aus der Gegenwart zu lernen. Der Grund für dieses Lernen war eben die Tatsache, dass viele Leute eine solche Art von Architektur mochten. Das ist zweifellos ein guter Grund, doch auf die Frage nach dem Charakter des Populären geben weder die Autoren von Lernen von Las Vegas noch Jencks wirklich eine Antwort. Im besten Fall könnte das kommunikative Schmuckelement eine substantielle Beziehung aufbauen zur »populären Tradition«, wobei fraglich ist, ob die Tradition einer lokalen, sozialen oder ethischen Gruppe im Bewußtsein derer, die zu diesen Gruppen gerechnet werden, explizit präsent ist. Zudem wären solche Traditionen selbst historisch - welcher resp. wessen Wissensvorrat kann angesichts der Vielheit vorausgesetzt werden?
Nicht zuletzt aufgrund solcher Unklarheiten hat die Architektur, die unter »Postmoderne« rubriziert wird, die Erwartungen zum größten Teil überhaupt nicht erfüllt. Erstens wurde der Appell an die Assoziationen auslösende Kraft des Symbolismus schnell zu einem kommerziellen »Warenhaus der Erinnerung«, das auf einen goutierenden Betrachter wirkte, aber für den tatsächlichen Benutzer kaum wirtlicher war als viele Projekte des Modernismus. Zweitens brachte der verspielte Manierismus eine Rückkehr der berüchtigten »Ente« mit sich - der Skulptur, die wie ein Leuchtturm ihre Umgebung überragt. Drittens hatte sich zeitweilig unter der Flagge der Postmoderne ein gigantomaner Neoklassizismus entwickelt - eine der grauenhaftesten Versionen davon ist Ricardo Bofills »Palast des Abraxas« in der Pariser Vorstadt Marne-la-Vallée. Und schließlich gab es noch die Tendenz zur Einschließung der Vielheit. Frederic Jameson erläuterte anhand des Hotels Bonaventure in Los Angeles, wie sich ein Gebäude von der verfallenden Stadtstruktur absonderte, ohne sich weiter für sie zu interessieren, während es gleichzeitig im Innern einen »totalen Raum« schuf, der die Stadt als utopisches Miniaturmodell reproduzierte.
Das von Lyotard geforderte »Ana« - daß die sich in der Ästhetik der Postmoderne zeigen sollte -, ist vielleicht eines, das mehr auf einen Betrachter als auf einen Benutzer abgestellt ist. Es ist fraglich, ob Architektur im Alltag tatsächlich »Ana« sein kann. Aber es gibt auch andere Beispiele. Eines der schönsten Gebäude der Postmoderne findet man in der Dresdner Straße in Berlin Kreuzberg, gleich hinter dem »Neuen Kreuzberger Zentrum«, einer zwischen 1969 und 1974 am Kottbusser Tor erbauten Wohnanlage - immer wieder angeführt als abschreckendes Beispiel modernistischer Planung. Nach der Fertigstellung wurde das Zentrum durch ein Parkhaus ergänzt, das aber nie funktionierte und schnell verwahrloste. Während der IBA 1987, der sogenannten postmodernen Bauausstellung, entstand in jenem zum Abriß bestimmten Parkhaus durch ein ausgeklügeltes Raumnutzungskonzept eine Kindertagesstätte, die heute noch dort residiert und einen sehr guten Ruf hat. Die von Dieter Frowein und Gerhard Spangenberg geplante Neudefinition des Parkhauses erinnert an Aldo van Eycks Kinderspielplätze in Amsterdam, die alle in den zugigen Ecken einer engen Stadt entstanden und jeweils auch den Raum in der Umgebung anders arrangierten. In solchen Projekten wird jene »in-between-awareness« spürbar, die es lohnend macht, die Postmoderne nicht als vergangen, sondern andauernd zu betrachten.
Diagnose / Programm
Zweifellos behält das Phänomen Postmoderne einen unklaren Status; es meint gleichzeitig eine Methode, eine Diagnose und ein Programm. Der Ausgangspunkt ist konkret: Man schaut erst einmal hin, etwa auf die kommerziellen Oberflächen, auf die Dekorationen, um zu begreifen, wie sie funktionieren. Dann wird aus diesen Beobachtungen abgeleitet, was für das eigene Projekt zu lernen wäre. Die Autoren von Lernen von Las Vegas wollten sich nicht mit dem befassen, »was eigentlich sein sollte«, sondern sie interessierte, »was ist« und »wie man es anpacken muß, diese Realität hier und jetzt zu verbessern«. Der Fortschritt besteht also nicht in der Errichtung eines heroisch-originellen Utopia, sondern wird immanent entwickelt, aus der Analyse des Gegebenen; und das Ergebnis wäre unbekannt.
So erhält die Analyse selbst bereits etwas Programmatisches. Das hat sich auch in La condition postmoderne gezeigt. Viele aktuelle Konzepte jener Vielheit entfalten sich in einem ähnlichen Limbo. »Multikulturalismus« oder »Diversity« sind jeweils beides: Bestandsaufnahmen, durchaus auch analytische Beschreibungen des Bestehenden, und Programm, das heißt Beschreibung einer Gestaltungsaufgabe. Man kann diese Vorstellungen kritisieren, aber sie haben den Vorteil, daß sie am Konkreten ansetzen und nicht durch Bezug auf ein Außen das Gegebene mißachten.
Allerdings wurde das im Diskurs der Postmoderne angelegte Versprechen der Überschreitung nicht eingelöst. Der Abschied von der Utopie hat die Arbeit an einem evolutionären Umbau nicht grundsätzlich befördert, sondern zu einer erstaunlichen Permanenz der Krise geführt. Daß etwa der Professor, wie von Lyotard gezeigt, den neuen Vermittlungsformen nicht mehr entspricht, führte eben nicht zu seiner Abdankung. Das von Lacan thematisierte »sujet-supposé-savoir«, also das Subjekt, dem man Wissen unterstellt, sei es nun ein Lehrer, Professor, Therapeut, Arzt oder ähnliches, hat seine göttliche Aura verloren. Es ist kein Abgesandter des Zentrums oder der Macht, bloß noch ein Experte mit einem beschränkten und stets von Zweifeln durchlöcherten Wissenshorizont. Freilich ist man weiterhin auf jene Subjekte angewiesen, denn deren Autorität läßt sich nicht einfach in einen Prozeß des »Ana« oder in demokratische »Peer-to-Peer«-Strukturen auflösen. Warum aber gibt es bis heute keine postmoderne Legitimation jener Subjekte?
Tatsächlich ist man mit einem Provisorium der Ungleichzeitigkeit konfrontiert, das eine Regierungsform geworden ist. Das Individuum wird dazu gezwungen, den schwach legitimierten und schlecht funktionierenden Institutionen mit »Eigenverantwortung« zu begegnen, was sie letztlich ununterbrochen überfordert. In diesem Sinne haben Arthur Kroker und andere in einer polemischen Weiterentwicklung die Panik als essentiellen Bestandteil der Postmoderne bezeichnet. Zweifellos ist die Postmoderne, wie sie Jean-Francois Lyotard verstanden hat, 30 Jahre nach dem Erscheinen von La condition postmoderne historisch geworden; doch das heißt keineswegs, wie Dietmar Dath kürzlich meinte, daß der »überholte Denkzauber der öden Siebziger« bestattet gehört. Wenn es Aufgabe der Postmoderne war, die Moderne »zu redigieren«, dann ist man heute zur Redaktion der Postmoderne aufgerufen. Dabei bleiben die Gestaltung und Politisierung der Vielheit essentiell. Und auch wenn viele Menschen in den Zeiten der Panik das Gefühl haben, kein Zuhause mehr zu besitzen und sie sich nach einem »normalen Leben« sehnen, muß man weiterhin den Mut aufbringen, von seinem Wohnort wegzufahren, dorthin, wo der Wunsch nach Gerechtigkeit sowie nach dem Unbekannten gleichermaßen respektiert werden.
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vgl. Homi Bhabha: The Location of Culture, London and New York 1994
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vgl. Aldo van Eyck: The Child, the City, the Artist. An Essay on Architecture. The in-between Realm, in: Ders.: Writings, Amsterdam 2008, S. 53 ff.
vgl. Robert Venturi: Komplexität und Widerspruch in der Architektur, Basel 2007
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vgl. Liane Lefaivre, Ingeborg de Ronde (Hrsg.): Aldo van Eyck. The Playground and the City, Rotterdam 2002.
Robert Venturi et al.: Lernen von Las Vegas, a.a.O., S. 151
Arthur Kroker et al. (Hrsg.): Panik-Enzyklopädie, Wien 2002
Dietmar Dath: „Macht? Macht doch, was ihr wollt!‟, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.01.2005
vgl. FL: Die Moderne redigieren, in: Wolfgang Welsch (Hrsg.): Wege aus der Moderne, a.a.O.