Eine Szene in Senso

Andreas van Dühren

Die Gräfin reist in einer Kutsche mit heruntergelassenen Rouleaus, eingeschlossen mit ihrer Leidenschaft, ihrem Begehren, ihrem Schuldgefühl, ihrem Aufruhr, ihrer Reue, ihrer Lust, ihrem Triumph, ihrer Erniedrigung, ihrer Angst, ihrer Freiheit, dem Empfinden eines Nichts, das noch zu verlieren oder zu gewinnen wäre, der Erwartung eines Ganzen, das schon nicht mehr auf dem Spiel steht; die Welt ist nur mehr für die anderen – oder, es gibt keine anderen. Der Wahnsinn, der bald offenkundig werden wird, ist bereits eingeschrieben in ein Gesicht, das vom Schaukeln des Wagens immer wieder innerhalb des Bildrahmens hin und hergeworfen wird. Noch verschleiert, betritt sie die Wohnung des Geliebten und findet diesen – nachlässig im Morgenrock, unrasiert, schmierig – weniger heruntergekommen als versehrt vor, als zeigte der Simulant, der sich vom Dienst befreien ließ, in den eigenen vier Wänden erst recht die vorgegebene Invalidität; die Prostituierte, deren Stimme eben zu hören war, kommt hinzu. Längst hat die Gräfin den Schleier gelüftet und muß nun eine andere Wahrheit erfahren.
Weshalb dies nacherzählen, wozu diese etwas mühsame, auf Zusammendrängung, Zuspitzung und den jeweils bevorstehenden Moment bedachte Rekonstruktion? Es beginnt eine Szene, von der man im Rückblick manchmal sagen möchte, sie rage aus dem Film heraus; man könnte sogar meinen, hier sei jetzt alles Bühne, herausgestellt aus einem Filmischen, von dessen Wesen man eine ebenso vage wie selbstverständliche Auffassung besitzt und das man, oft einfältig genug, dem Theatralischen entgegensetzt. Doch man müßte von dieser Szene sagen, daß sie vielmehr ins Zentrum dieses – nicht nur dieses - Filmes führt, sowie, daß die gesamte vorausgehende Erzählung, mochte sie bis dahin auch noch so verschiedene Formen, ganze Genres einbeziehen und indessen einer Auffächerung aller möglichen Täuschungen gleichen, eine Engführung war, welche in dem Augenblick, da die Gräfin eintritt, eine vollkommene Gegenwart beginnen läßt. Daß dieser Eindruck nur dank der Kinematographie möglich ist, erschließt sich sogleich, indem man den schlichtesten Kunstgriff bemerkt: Die drei Personen nehmen an einem Tisch Platz, und wir nehmen nun alles wahr, als säßen wir mit ihnen – die Einstellungen suggerieren den gleichen Abstand.
Es soll hier nicht der Abklatsch einer dramatischen Situation gegeben werden, nur so viel, daß der Mann die wahre Geschichte ihrer Liebe erzählt – was ebensogut eine Lüge sein könnte, eine Selbsterniedrigung, welche jede andere Möglichkeit nachträglich ausschließen soll, oder einfach die Kehrseite jeder Liebe, sobald diese den Höhepunkt erreicht hat: tatsächlich glaubt man am Ende, daß diese beiden in der Enthüllung des Gemeinen, der Niedertracht, des erbärmlichen Betruges, einander so nahe gekommen seien, wie sie es im Widerspiel der Verführung kaum je waren – als all das, was die Verführung köstlich, unerträglich und unüberwindlich sein ließ, eine wirkliche Begegnung verstellte.
›Wirklich‹ – dieses Wort, das man so leichthin einfügt, um eine Behauptung zu bekräftigen, ist für einmal ernst zu nehmen. Es wird oft mißbraucht – umso mehr, je öfter man es im Gefallen an der bloßen Abwechslung oder im Eifer des Gefechts, im Zuge eines auf immer neue Anhaltspunkte ausgehenden, doch nur dahinschlendernden Diskurses mit anderen vertauscht: dem Leben, der Welt, womöglich der Natur – von der wir doch, je mehr wir von ihr wissen, auch dies wissen müßten, daß sie sich immer weniger mit gewöhnlichen Begriffen des Lebens oder Abbildern der Welt verstehen, auch nur vergleichen läßt. Realität – also die Herrschaft des Gegebenen im Augenblick, der man sich noch nicht in einen Bereich der Reflexion, des Intelligiblen, der Deutung und Erinnerung entziehen kann – ist ein Begriff, der, wenn überhaupt, mit jenem anderen der Gegenwart sich verknüpft; erst die Darstellung von Realität – eine unausweichliche Kontradiktion – ist von Geschichte durchdrungen.
Diesen Zusammenhang mag man in anderen Werken Viscontis ähnlich prägnant vorfinden – das Porträt des Fürsten von Salina, die Fischer in ›La terra trema‹, die Analyse Ludwigs II.; wenn er in ›Senso‹ derart deutlich, bis zur Auslöschung der Begriffe überwältigend sich aus-wirkt, dann vielleicht, weil der Vorwand hier die Liebe ist, fast nur ein anderes Wort für diesen Zusammenhang. Und es ist wohl einer der wenigen Filme, die wirklich dieses Gefühl zeigen; man könnte fünf oder sechs andere nennen – der Rest ist lediglich Kino.
Es ist gewiß nicht unerheblich, daß Visconti, Nachfahre eines Condottiere, der sich Mailand zur Beute gemacht hatte, auch Marxist war; es bietet jedenfalls keine Entschuldigung dafür, den Begriff ›Realismus‹ mißzuverstehen. Ein Rezept gibt er nicht – andere mögen sich auf andere Weise ausdrücken; doch die Wahrheit – um zuletzt noch dieses Wort aus dem Geläufigen einzubringen – zeigt sich nicht, ohne daß man sich für einige Augenblicke in die Gegenwart einschließen läßt.

Auch wenn man die Unwägbarkeiten der Inspiration oder die Zufälle, die zu einer Auftragsarbeit führen, in Rechnung stellt, so bleibt die Forderung nach einem triftigen Grund dafür, einen althergebrachten Begriff, wie er in verschiedenen Fakultäten durch Jahrhunderte gehandelt wurde, an einem Beispiel aus der jüngsten Kunst zu prüfen. Für diesen Ansatz bedarf es keiner Entschuldigung, doch ganz selbstverständlich ist er nicht; die Möglichkeiten dessen, was ›Realismus‹ bedeuten mag, im Bereich der Kinematographie zu erörtern, suggeriert immerhin ein leichtes Einvernehmen darüber, jeder Film sei bereits in ein bestimmtes Verhältnis zu einer ihm äußerlichen Realität gesetzt und erst die jeweiligen Besonderheiten, technische oder konzeptionelle, eröffneten das Feld zur Diskussion.
Dabei belehrt uns nicht nur die Überlieferung – vom Schrecken jener Zuschauer, die den in einen Bahnhof einfahrenden Zug tatsächlich auf sich zukommen zu sehen glaubten –, auch die mehr oder weniger alltägliche Beobachtung im Kinosaal – etwa eines Nachbarn, der den Anblick eines vermeintlich vor seinen Augen geschlachteten Tieres nicht erträgt und sich abwendet – über die Widersprüchlichkeit dieser Beziehung eines Mediums zu einer übrigen Welt: einmal mußte ein Teil der abgebildeten Realität, der Bahnhof, ignoriert werden, um den anderen Teil, den sich nähernden Zug, in einem Variété für wirklich zu halten; im zweiten Fall mußte etwas, das tatsächlich nicht gezeigt wurde, die Tötung, imaginiert werden, um dem eigentlichen Geschehen durch Anverwandlung der Montage seine Qualität des vollständig Gegenwärtigen zu verleihen.
Und zu allen Zeiten in der Geschichte der Kinematographie liegt beides dicht nebeneinander: das ›ungläubige Staunen‹ neben dem bequemen Genuß in der Gewißheit, es sei doch ›nur ein Film‹; übrigens, und für diese Betrachtung vielleicht interessanter, auch die völlige Hingabe an ein Geschehen und die Bereitschaft, oft schon im nächsten Moment, die Bedingungen der Fabrikation zu erkennen – kaum ein Medium, dem so viele sich in ›blindem Glauben‹ ausliefern und von dem sie doch meinen, es ohne weitere Kenntnis beurteilen zu können, während sie sich gegenüber den anderen Künsten noch in alter Scheu verhalten. Der einfachste, banale Grund für derart widersprüchliche Einstellungen liegt wohl darin, daß es ein und die selbe eines jeden gegenüber all dem ist, was ihm im Leben begegnet – auch dadurch bestimmt, dem Einzelnen keine Wahl zu lassen, es sei denn die Option, das sogenannte Leben nur als ein Sujet neben anderen, somit ästhetisch zu begreifen.
Eine weniger banale als schreckliche Konsequenz hieße, daß die Kinematographie – trotz allem Prestige, das sie bei Preisverleihungen ausstrahlen darf – weiterhin nur ausnahmsweise als Kunst verstanden wird; und dies ist keine Frage der Hierarchie, sondern der Authentizität – nämlich, ob man letztere in Hinblick auf ein konfektioniertes Vorbild für das bemißt, was vom artifiziellen Charakter eines Werkes abweicht, oder auf das, was ihm entspricht. Wenn jenes Mißverständnis ebenfalls im Umgang mit Literatur sich auswirkt, so weil auch dort der vermeintliche Realitätsgehalt umso ›glaubhafter‹ sich entfaltet, je mehr Raum einem Illusionismus zugebilligt wird, der die bloße Ähnlichkeit mit Vorgestanztem garantiert: die Lüge vom Realismus bedarf zu jener Entwicklung der Glaubwürdigkeit auch einer Dauer und ist gebunden an eine Logik der Erzählung, welche die Gesetzmäßigkeiten des einzelnen Artefakts überlagern soll.
Hingegen würde die Täuschung, die von den Früchten des Xeuxis ausging, heute verachtet; der Effekt, sobald er durchschaut wäre, lenkte die Wahrnehmung auf die bewußte, autoritäre Ausübung einer Kunst zurück, die sich idealistisch über alles bloß Hinreichende hinwegsetzt: der Virtuose – aufrichtig genug, das Bewußtsein dafür wach zu halten, daß er aus nichts etwas gemacht hat und daß dieses ›nichts‹ alles ist – gilt längst als Scharlatan. Diesem Verdacht immerhin mag sich der zeitgenössische Realist schon dadurch entziehen, daß er nicht aufs Ganze geht.

Ohnehin bleibt der Begriff heikel in der Beziehung zwischen einer Übermacht des Objektiven, die im Gegenwärtigen auch begrenzt ist, und einem Subjekt, das sie nur im Geschichtlichen anerkennen kann. Die Einebnung des Geschichtlichen zum bloßen thematischen Material, die dessen Verfügbarkeit begünstigen soll, enthebt das Subjekt nicht im Sinne der Autorschaft, bindet es vielmehr ein in den planen Zusammenhang der Vorwände. Der Künstler, indem er die Reflexion auf das Gegebene dem Entstehungsprozeß des Werkes selbst entziehen wollte, fügte sich dem Artefakt fast nur als anekdotischer Bestandteil ein. Im Vermittlungsgerede, das diesen neuerlichen Siegeszug des Sujets begleitet, wird neben einer subtilen, wenn nicht perfiden Verquickung von Ironie und Pathos das eigentlich vorherrschende Element unterschlagen: der Kitsch.