Nostalgie

Gespräch mit Diedrich Diederichsen

A.v.D.: Ich möchte mit einer Hypothese beginnen: Die Pop-Musik, der man vielleicht schon wegen ihrer Tendenz, die Jugend zu beschwören, ein nostalgisches Moment zuschreiben kann, wurde mehr oder weniger bewußt nostalgisch etwa seit dem Jahr, das man gemeinhin mit einem großen Aufbruch assoziiert, also 1968.
D.D.: Also, ich finde, daß man sagen kann: Die Pop-Musik wurde nostalgisch, seit man sie „Pop-Musik“ nennen kann, nämlich seit den Gründerfiguren - Eddie Cochran, Buddy Holly etc... Der Tod von Buddy Holly und die Reaktionen darauf, etwa von Joe Meek ein Jahr später, waren bereits nostalgische Stücke insofern, als sie eine bestimmte Form von Pop-Musik etablierten, die es bis heute gibt und die bis heute einen großen Teil von Pop-Musik ausmacht, nämlich den Song, der davon handelt, wie es war, als alles noch intensiv war. Das ist entweder ein Nekrolog, also in diesem Fall auf Buddy Holly und später der berühmte „American Pie“ (in der Tat in der eigentlichen Nostalgieperiode entstanden): die Beschwörung eines bestimmten Momentes, als die Musik noch intensiv war. Es ist wohl immer ein strukturelles Problem von Pop-Musik, daß sie in dem Moment, da sie zu sprechen anfängt, sich von diesem Präsentismus, dieser Unmittelbarkeit, die ihr normalerweise zugeschrieben wird und die natürlich einen Teil ihrer Funktion ausmacht, einen Schritt wegbewegt und anfängt zurückzublicken; das ist sozusagen das Greifbare des Songs, vor allem des textlichen Teils; und der steht in einem Spannungsverhältnis zum Rest der Musik oder auch nicht: entweder steht es in einem Spannungsverhältnis und der Rest der Musik ist gewissermaßen noch die Musik, an die sich der Text wehmütig erinnert, oder es ist schon eine eigene Form, die eben für dieses ganze Erinnerungs- und Nostalgiesentiment gemacht worden ist. Und dann gibt es eine andere Pop-Musik, „Surfin’ Bird“ oder „Louie Louie“ oder Techno oder „Rock Your Baby“ von George MacRae oder „Sex Machine“ von James Brown, die handelt von diesem Moment, beziehungsweise die ist für diese Momente vorgesehen. Ich denke, das sind die zwei grundsätzlichen Genres von Pop-Musik: also ein nostalgisches und ein präsentistisches, Unmittelbarkeit beschwörendes. Nun ist natürlich trotzdem in dieser Frage etwas sehr Wahres – daß es da nämlich noch einmal eine Konjunktur des Nostalgischen gegeben hat, nicht so sehr in den Formen von Pop-Musik, sondern in ihrem Kontext, in ihrem Umfeld, in den Diskurssen dazu und natürlich auch in der Art, wie sie sich an bestimmte künstlerische, gestalterische und sonstige Trends angeschlossen oder diese auch vorweggenommen hat; das betrifft in der Tat eine andere Epoche. Ich würde sie nur etwas später ansiedeln, also nicht unbedingt schon 1968, sondern eben in den siebziger Jahren, als der Begriff der Nostalgie dann seine Bedeutung änderte und aus der allgemeinen Nostalgia-Sehnsucht die spezifische, auf eine bestimmte Epoche bezogene Nostalgie entstand, die ja interessanterweise, zumindest in der filmischen Begleitproduktion zur Nostalgie der Pop-Musik, sehr oft das Dritte Reich war: „Cabaret“, die Visconti-Filme, also „Die Verdammten“ etc., die ja alle in diesem Kontext rezipiert worden sind, bis hin zu „Nachtportier“; da ist ja die Nostalgie sehr stark mit der Nazi-Zeit oder mit dem Entstehen der Nazi-Zeit verbunden, sowie - „Der große Gatsby“ usw. - mit anderen Phänomenen der zwanziger und dreißiger Jahre. In der Pop-Musik waren es eher die fünfziger Jahre, auf die man sich dann bezog, also auf die Phase, bevor Pop-Musik sozusagen wußte, was sie tat, oder anfing, darüber nachzudenken, was sie tat; das setzt in dem Moment ein, als Sha-na-na auf dem Woodstock-Festival auftreten – als eine ungeheure Provokation der Hippiekultur: Das ist, glaube ich, der Moment, da das einsetzt. Ein Jahr später findet das Rock-and-Roll-Festival in Toronto statt, wo John Lennon und die Plastic-Ono-Band auftreten – auch Chuck Berry - und sonst nur alte Rocker; damit ist der unbewußte, der ahnungslose, der naive Rock and Roll rehabilitiert; und alles Weitere, von Roxy Music bis Manhattan Transfer, passiert dann danach.
A.v.D.: Wahrscheinlich hatte ich dabei auch einen intensivierten Rückblick im Sinn, wie er sich dann auch in der Songwriterkultur deutlich machte: daß um 1970, auf Alben wie „Blue“ von Joni Mitchell etwa, eine gewisse Melancholie - sehr artifiziell zwar, auch elaboriert und hochbewußt –, als Einschnitt und Wandel sogar thematisiert wurde und nicht nur ungefähr in Stimmung sich ausdrückte, sondern in den Texten; abgesehen davon, daß dies ja auch eine Zeit war, in der manche Gruppen sich schon wieder aufgelöst hatten – eines Rückzugs ins Private, einer Tendenz zum Einzelnen.
D.D.: Das ist noch ein anderer Punkt, den ich recht interessant finde – daß der Begriff des Singer/ Songwriter ab 1970 eine Konjunktur erlebte und man, sozusagen thematisch, seltsame Heilungs-prozesse beobachten kann: Also, Leute tun alle möglichen Dinge, die konventionell als Selbstheilung kodiert sind, oder als Reparatur – von Schäden, die sie in der Intensität erlitten haben, sei es die politische oder die psychedelische. Das ist interessant, weil da mit dieser Form des Songs und der Betonung, daß Singer und Songwriter identisch sind (was im Grunde in der Pop-Musik seit den frühen Sechzigern der Fall ist - aber das wird dann noch einmal paraphiert), damit zugleich der Abschied vom Kollektiv und der großen politischen Hoffnung prozessiert wird - mit dem Ziel, nun wenigstens ein kompletter, ganzer Einzelner, ein heiles Subjekt zu sein, das dadurch heil ist, daß es et-was hinter sich hat; und das, was es hinter sich hat, ist zum einen etwas gewesen, das in der Form ekstatischer und intensiver Pop-Musik fragmentiert gewesen ist, weil es sozusagen in seiner Forderung nach Gegenwart und Präsenz ein komplett funktionierendes Subjekt gar nicht gebrauchen konnte, und auf der anderen Seite kollektiviert, weil es immer viele sein mußten. Diese beiden antisubjektiven oder auch antiindividualistischen Extreme, die diese ekstatische Pop-Musik, die politischen, die kollektiven Ekstasen der sechziger Jahre zu bieten hatten, werden nun von beiden Seiten dadurch negiert, daß man sie jetzt wieder heilt und rekonstruiert zu einem kompletten Subjekt. Das ist etwas, das erstaunlicherweise auch sehr oft verbunden war mit einem neuen Interesse an archaischen Formen; die alte Hippie-Musik war ja, wenn sie sich auf Archaisches besonnen hat, nicht bemüht, etwa ethno-logisch korrekt damit umzugehen, sondern war ja reines Spiel und reine Dekoration, meinetwegen auch exzessiv. Aber in den frühen Siebzigern, im Zuge dieser Selbstheilung oder Rekonstruktion der Person, beginnt etwas, von dem man sagen kann: Man will zu den eigenen, zu irgendwelchen Wur-zeln zurück; es müssen gar keine eigenen, es können auch erfundene sein – man hört wieder Folk-Blues und nicht mehr Electric-Blues oder R&B, in Europa gibt es eine große Begeisterung für kel-tische oder germanische oder sonstige, gewissermaßen präzivilisatorische Kulturen. Das wirkt dann noch zusammen mit der berühmten – nicht „Rückkehr der Innerlichkeit“, wie hieß das im deutschen Feuilleton? Also, Handkes Wende zum...
A.v.D.: „Die Stunde der wahren Empfindung“.
D.D.: Ja, so hieß das Buch, aber es gab einen Ausdruck für diese neue Sensibilität - Autoren, die avandgardistische Schreibweisen zugunsten von traditionellen aufgaben, wobei man darüber streiten kann, wie traditionell das nun war; Beispiele sind eben Handke, Wondratscheck und andere, die vorher aus einer experimentellen Schule kamen und dann „wieder erzählten“. Das ist natürlich alles eine ähnliche Bewegung, von der ich sagen würde: das ist noch eine andere Art von Nostalgie oder Vergangenheitsbezug - weil es etwas ganz Konkretes davon will - als in der Pop-Musik die Bezugnahmen auf die Fünfziger und den naiven Rock and Roll; denn das hatte auch sehr viel damit zu tun, daß sich die Form über sich selbst verständigen mußte. Es gab ja keine Konstante in der Pop-Musik; bis dahin hatte sie gewissermaßen die Form einer reinen Expansion – man konnte es als reine Expansionsgeschichte sehen -, und als die Expansion an einem bestimmten Punkt angekommen war, da hieß die Frage: Was ist hier die Konstante und was ist sozusagen das, was geschichtlich variieren kann? Und die Frage: Was war denn eigentlich einmal mit Rock and Roll? - die ab 1970 so stark aufkommt und dann irgendwann im Punk gipfelt - hatte ja auch damit zu tun.
A.v.D.: Nun kann man sich leicht damit begnügen, Nostalgie für ein allzumenschliches Gefühl zu halten; ich glaube nur, daß sich dieses Gefühl, wie jedes andere, nicht über eine gewisse Periode hinaus produktiv verarbeiten läßt und dann, im persönlichen wie im gesellschaftlichen Zusammenhang, zu einer reaktionären Befindlichkeit verkommt, die sich heute – und dies wäre eine zweite Hypothese – in einem exzessiven Jugendkult verbergen mag.
D.D.: Also, der Jugendkult ist, glaube ich, doch sehr unter Beschuß. Gibt es ihn überhaupt noch? Die Tatsache, daß nach Techno jetzt wieder alle Bands Rock and Roll oder Rockmusik spielen, also eigentlich in allen Bereichen alte Formen in der Pop-Musik wieder dominieren (Ausnahme vielleicht der R&B-Sektor ), ist doch eigentlich eher ein Zeichen dafür, daß die Jugend gar nichts zu sagen hat, daß sie sich nicht artikuliert, sondern daß alte Modelle rekonstruiert werden, aber ohne den Ansatz, den man vielleicht früher noch hatte, als das nämlich zum ersten Mal passierte, also in den siebziger Jahren und dann auch noch einmal in den Achtzigern, als bis dahin unbearbeitete historische Phasen, wie Psychedelic-Punk und andere, rekonstruiert worden sind... daß es jetzt gar nicht darum geht, auf eine bestimmte historische Epoche zu verweisen – was ja sozusagen das Ganze framen oder auch relativieren, eine Distanz einbauen und eine Art von Selbstvergewisserung möglich machen würde -, sondern daß sehr geschichtslos geglaubt wird, das sei jetzt halt Pop-Musik; der einzige Unterschied zu ihren Vorbildern besteht darin, daß alles etwas punktgenauer ist, daß es etwas besser produziert ist, daß es alles besser sitzt. Die Leute können ja alle besser spielen; es ist erstaunlich, daß, obwohl es gar keine Kultur des Schlagzeugspiels mehr gibt und man den individuellen Schlagzeuger heutzutage gar nicht mehr identifizieren kann - was man früher mit Leichtigkeit konnte –, natürlich alle, rein tecnisch gesehen, besser sind; die Schlagzeuger schleppen zum Beispiel nicht mehr, es sitzt immer alles auf der Eins, und dafür kann man sie nicht mehr unterscheiden. Das ist schon merkwürdig – man hat das Gefühl, das ist eine Disziplin, wie Bodenturnen oder Leichtathletik, in der man halt auch immer besser wird in einer vorgegebenen Sache – also, wie beim Hundertmeterlauf, nicht?: die laufen immer noch hundert Meter, und keiner kommt auf die Idee, mal einundneunzig oder hundertsieben oder vielleicht auch mal um die Ecke...Und das ist ja eigentlich eine totale Entmächtigung von Jugend, finde ich; weil diejenigen Generationen, die immer noch irgendwelche Erfahrungen zum ersten Mal machen – und das ist immer noch unsere oder die davor -, zwar nicht mehr die Erfahrungen der Jugendlichen machen, sondern, was weiß ich, der Vierzig-, Fünzig-, Sechzigjährigen; und immer, wenn sie die machen, gibt es ein großes Getöse – es erscheinen Bücher, Essays: Jetzt sind die in den fünfziger Jahren Geborenen sechzig geworden – schau an, schau an! Daß inzwischen Leute zwanzig geworden sind, interessiert keinen; die machen ja auch Rock and Roll, die spielen ja auch immer noch die selben Little-Richard-Stücke nach. Insofern – der Jugendwahn, oder der vermeintliche Jugendwahn, ist etwas, bei dem wahrscheinlich eher Bilder von Jugendlichkeit kursieren, die älteren Leuten gefallen.
A.v.D.: Ja, das hatte ich vielleicht auch eher im Sinn...
D.D.: Das ist das Reaktionäre, das du meinst.
A.v.D.: ...daß es natürlich nicht etwa so ist, daß die Jugend eine größere Macht hätte, sondern eher ein konfektioniertes Bild von Jugendlichkeit vielleicht die wahren Kräfte verstellt oder dämpft. Daß dieses konfektionierte Bild womöglich von Sechzigjährigen auf der Bühne hochgehalten wird, nehme ich ja auch zur Kenntnis.
D.D.: Okay. Dazu könnte ich noch sagen: Ich habe gestern im Fernsehen eine völlig idiotische Diskussion über Jugendwahn gesehen, die allerdings so bescheuert war, daß wir nicht weiter darauf einzugehen brauchen. Nur eines ist mir daran aufgefallen, daß die Frage, wie man sich sozusagen altersspezifisch richtig benimmt - oder überhaupt, was altersspezifisch angemessen ist -, natürlich auch so ein Rückschlag zu dieser ganzen biopolitischen Wende ist, die wir zur Zeit erleben. Also, die Tatsache, daß das Leben, die Lebendigkeit und die Körperlichkeit, sei es nun das verlängerte oder das genetisch manipulierte oder auch das nützliche, das ökonomisch nutzlose, das „Hartz-IV“-Leben – der shift davon, auf Gesellschaft als soziale, politische Einheit, als Funktionseinheiten zu schauen, hin zu Biomasse - natürlich auch eine ganz starke Hintergrundmusik zu dieser Frage ist: Was ist altersspezifisch angemessen? Wenn man jetzt den Sechzigjährigen vorwirft, sie würden krampfhaft versuchen, auf jung zu machen, dann muß man natürlich auch sagen, daß diese Kategorie „jung“, die man denen dann vorhält, vielleicht auch ein Desiderat der Lebenserfahrung ist, die einmal etwas zu tun hatte mit kulturellen Revolten. Das ist vielleicht ein äußerst trister Rest davon; aber immerhin - das wäre eine historische und nicht nur eine Selbstverkennungsdimension, daß die so sind und sein wollen, daß sie, was ihnen dann von konservativer Seite oft sehr aggressiv vorgeworfen wird, nicht aufhören, sich selbst verwirklichen zu wollen. Das ist vielleicht besser als das, was deren Eltern gemacht haben, als die sechzig geworden sind – was weiß ich: traurig und ressentimentgeladen auf die Welt geguckt, nicht? Ich meine, das daran Auffallende und irrsinnig Sichtbare, teilweise Erbärmliche und Lächerliche daran ist womöglich etwas, das diese Leute immer schon hatten; und das Erbärmliche liegt nicht darin, daß sie mit sechzig noch wie zwanzig sein wollen – gut, das ist ein bißchen ein Substrat ihrer Übersetzung, ihrer Lebenserfahrung, ihrer kulturpolitischen Investments, die sie vielleicht einmal hatten; aber das ist dann eben intellektuell oder künstlerisch erbärmlich. Wenn Udo Lindenberg so etwas macht, dann liegt das zu einem geringeren Teil daran, daß er jetzt seine eigene generationelle Rolle mißversteht; da würde ich fast dafür plädieren, das erst einmal...Ja, warum nicht? Warum sollen die aufhören, ihre wenn auch meinetwegen grauenhaft mißverstandenen, reduzierten oder verblödet verstandenen Lebenserfahrungen als Bestandteil dieser ’68-er Generation weiterleben zu wollen – im Gegensatz zu all denen, die so eine komische, aggressive Selbstverleugnung betreiben, also die Hans Christoph Buchs und Thomas Schmids dieser Welt.
A.v.D.: Es könnte ja nicht nur eine Stilfrage sein, sondern fast eine Art von, sagen wir, instinktiver Ausrichtung, daß, auch um älter zu werden, als die Leute es bis vor einigen Generationen ja noch wurden, diese Selbstsuggestion der Jugendlichkeit schon aus medizinischen Gründen notwendig ist - so daß diejenigen, die das kritisieren, damit eigentlich meinen: Warum werdet ihr überhaupt so alt?
D.D.: Ja, natürlich.
A.v.D.: In letzter Zeit – nicht um das Thema zu wechseln, nur um einen anderen Begriff einzuführen – läßt sich bei einigen Generationsgenossen die Anstrengung beobachten, den Terminus „konservativ“ aufs neue zur Geltung zu bringen. Ich selbst würde zwar behaupten, daß eine nachhaltige Wiederaneignung bereits vor mehr als zwanzig Jahren geleistet wurde oder zu beklagen war – je nach Geschmack; aber ich würde gern von dir hören, ob du hier einen Spielraum für neue Auslegungen findest.
D.D.: Also, ich kenne kaum jemanden...ich weiß nicht, auf wen oder was du dich jetzt beziehst – auf Leute, die Konservativität kritisieren oder die sich selbst in einem positiven Sinne auf das Kon-servativsein beziehen?
A.v.D.: Sowohl als auch: ein Wiederaufgreifen des Begriffes, als sei dies gegenwärtig virulent - als Drohung etwa zu sehen; oder auch Leute, die sich mit einer wie auch immer überzeugenden Gelassenheit dazu bekennen.
D.D.: Also, ich selbst benutze diesen Begriff oft, und ich denke, es ist eine Diagnose, zu sagen: Wir haben es mit einer neokonservativen Kultur zu tun – ganz weitreichend. Das könnte ich gern erklären, aber ich glaube andererseits nicht, daß sich irgend jemand selbst konservativ nennt; sondern diejenigen, die ich „konservativ“ nennen würde – wo ich sagen würde, das sei ein Phänomen des Neokonservativen -, nennen sich seit sieben, acht Jahren „bürgerlich“; ihr Schlüsselbegriff ist die Bürgerlichkeit, und was sie an Umwertung bestimmter Positionen, Weltanschauungen, Werte vornehmen, zu ihren Gunsten oder zugunsten eines neokonservativen Weltbildes, läuft über den Diskursschalter „bürgerlich“, weil es einer ist, der aus anderen Gründen – zum Beispiel dadurch, daß „bürgerlich“, eine Zeitlang von links negativ besetzt, jetzt auch von links nicht mehr nur negativ besetzt ist, sondern, seit es so etwas wie eine rassistisch-rechtsradikale Front und auf der anderen Seite einen Islamismus gibt – etwas wie ein, auch geliebtes, kleineres Übel geworden ist; deswegen taugt dieser Begriff auch zu solchen diskursiven Umschaltungen. Aber wenn ich sage, daß es eine neokonservative Kultur gibt, dann weil es eine ganze Reihe von früher kulturpolitisch unter Beschuß stehenden Begriffen, Themen gibt, die zur Zeit wieder positiv besetzt werden, und zwar gezielt; nur glaube ich nicht, daß man sagen kann, daß es bei den Einzelnen geschlossene Weltbilder gibt, die geschlossen konservativ sind. Wie gesagt, es gab einmal den Versuch, an die rechte, konservative Revolution anzuknüpfen – aber eher in den frühen Neunzigern; es war damals relativ verbreitet in einer ehemals auch kulturrevolutionären Szene, aber das ist eigentlich verschwunden; selbst Botho Strauß, den man da nennen könnte, oder Leute wie Weissmann - die haben das nicht weiter betrieben. Dagegen der Versuch einer Rückkehr zu alten Formen - in der neuen Musik die Rückkehr zur Tonalität, in der bildenden Kunst die Rückkehr zur Malerei, zum Tafelbild, in der Ästhetik beziehungsweise in der Kunsttheorie die Rückkehr zu einer primär sinnlichen Rezeption, dann die Familie, das Abendland –, also eine Argumentation nicht von einer atheistisch-weltlichen Position aus, sondern in einer kulturalistischen Selbstbestimmung über abendländische Tradition, christliche Tradition etc.; dann natürlich auch eine Art konservativer Dandyismus, wie ihn etwa die Tristesse Royal- Leute in die Welt gesetzt haben. Da gibt es eine ganze Menge einzelner Punkte – wobei natürlich die einzelnen Beteiligten das eher leben wollen, als daß sie jetzt eine Weltanschauung rekonstruieren wollten; dazu sind sie wahrscheinlich noch nicht alt genug, oder sie haben dafür auch noch nicht die Erfahrung. Das sind also eher Inseln – ideologische Inseln -, um die sich das gruppiert; aber die gehen sehr weit, und die haben natürlich noch den ganz anderen Hintergrund - oder einen Nebenthread -, daß die Massenkultur und die Kulturindustrie wahnsinnig konservativ geworden ist; denn das war sie ja einmal nicht. Die Massenkultur war, wie erbärmlich auch immer, beeinflußt von sozialdemokratisch-linken Positionen; und heutzutage kann man sagen: wenn man sich einen beliebigen von der ARD produzierten Fernsehfilm ansieht, dann ist all das, was in den fünfziger Jahren als weltfremd, reaktionär etc. kritisiert wurde, dagegen harmlos; dort ist eine Heimatfilmwelt wieder da (nicht unbedingt nur Heimat, auch in anderen Kontexten), eine Rekonstruktion von Weltbildern - das ist atemberaubend; das guckt sich bloß kein Mensch an. Das betrifft ja nicht nur die Produktion der ARD; das betrifft auch Kino – und das ist erstaunlich: Hollywood ist dann gewissermaßen noch am progressivsten; die Massenkultur, die aus Hollywood kommt, ist immer noch vage linksliberal. Also, da hat es einen ganz großen konservativen Schub gegeben, und zwar komischerweise ohne direkten ideologischen Druck – den hat nun niemand auf die Fernsehunterhaltung ausgeübt -, sondern über die Ideologie der Quote; da gab es gar keine konservative Ideologie, die das wollte – da sitzen nicht irgendwelche Produzenten, die gern wieder Heimatfilme drehen wollen -, sondern da sitzen Leute, die meinen: Quote muß her! Wie machen wir das? Über Heimatfilme. Das ist eine ganz andere Ecke; aber das ist eine sehr komplizierte Konstellation.
A.v.D.: Während ich dir zuhöre, denke ich aber schon, daß manches von dem, was du formuliert oder an Beispielen gebracht hast – auch an Begriffen -, mir doch bekannt vorkommt aus einer Zeit... Daß zum Beispiel der Begriff „Heimat“ wieder seriös ins Gespräch genommen worden ist: das war ja ’82/83, glaube ich, als die gleichnamige Serie mit großer Welle kam. Man muß jetzt nicht von der Wende sprechen, die damals ausgerufen wurde - es schlug sich ja in der Praxis auch nieder in einem Umschwung bei den Öffentlich-Rechtlichen Anstalten; das ist ja nicht ein allzu junges Phänomen - daß da ein Epochenwechsel zu verzeichnen war, das merkte man schon Mitte der achtziger Jahre. Natürlich kann man immer – in Fünfjahresabständen wahrscheinlich – neue Indizien finden: Der Begriff „Neokonservatismus“ ist ja von amerikanischer Seite etwa Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger auch in einer Form aufgekommen und der Begriff „konservativ“ von Leuten ins Feld geführt worden, die man nicht gleich als Idioten abstempeln konnte, sondern die ein gewisses intellektuelles Besteck oder Instrumentarium hatten, so daß man zumindest einen Moment aufhorchte.
D.D.: Ich verwende den Begriff „neokonservativ“ nicht im Sinne der historischen Neokonservativen; das ist ja ein Begriff, der immer wieder unterschiedlich geprägt ist; natürlich, das amerikanische...das war schon ein Begriffsbild. Aber für mich ist „neokonservativ“ wie auch „neotraditionell“ einfach eine Bezugnahme auf konservative Werte, die nicht aus einer Kontinuität kommt, sondern aus einer entweder sogar kulturrevolutionären oder aus einer abrupten oder zumindest gewollten, gemachten, nachvollziehbaren und nicht traditionellen Entwicklung. Und das unterscheidet sich von den Konservatismen, sagen wir, des Vatikans dadurch, daß es sich in die Diskussion bringen will, daß es nicht irgendwelche historischen Pfründe verteidigt, sondern daß es aktiv teilnehmen will – an Gestaltung von Welt und Gesellschaft. Die Kohlsche geistig-moralische Wende, und was da an Drumherum noch passierte – noch in der Kontinuität der BRD -, das war so ein klassischer backlash: Jetzt hatten die Sozen und die Linken soundso lange die und die Einflußinstrumente in der Hand, jetzt haben wir sie – mal sehen, was wir damit hinkriegen. Und es gab ja enormen Protest, nicht? Es gab ja damals noch einen sozialdemokratischen, linken mainstream, mit dem man selbst nicht viel zu tun hatte, aber der sich enorm empörte...
A.v.D.: 1983 gab es diesen halben Skandal um Achternbusch...
D.D.: Zum Beispiel. Da gab es eine enorme Empörung. Ich war noch auf der Position, daß ich die linke Empörung lächerlich fand, weil die damit argumentierte, der deutsche Film, wie ihn Achternbusch repräsentiert, hätte ja viel für Deutschlands Ansehen im Ausland getan; und ich fand es eine so erbärmliche Argumentation: Was interessiert mich denn Deutschlands Ansehen im Ausland, was kann das denn, für einen Künstler, für ein Ziel sein, das zu mehren? Aber, wie gesagt, ich denke, daß es noch in der Kontinuität der BRD stand, daß es ein back-lash war, ein Versuch, irgendwie zu retten oder zu rekonstruieren, was es da noch gab (sicher ähnlich der Neue-Innerlichkeits-Entwicklung in den frühen Siebzigern, die auch Rückgriff auf die Bestände sein wollte), daß aber, was nach ’89/90 passiert ist – auch global -, anders zu sehen ist, weil da nicht zwei Faktionen oder zwei Seiten mit einem bestimmten Bestand an Ideologemen sich bekämpft haben, sondern eine andere historische Wirklichkeit sich zu diesem neuen Lancieren von Ideen und Begriffen verhalten hat; das ist ein wesentlicher Unterschied. Ansonsten würde ich dir Recht geben: viele der Motive sind auch schon früher aufgetaucht, immer mal wieder aufgetaucht; aber neu ist, finde ich, ein Motiv nicht dann, wenn es jungfräulich-frisch auf die Welt kommt, sondern wenn es sich neu mit historischer Wirklichkeit verbindet; und diese Möglichkeit hatte der ganze Neokonservatismus erst seit den frühen Neunzigern, weil es da, auch für die aktuelle Situation, zunächst keine Gegenposition gab; die Linke war relativ kalt erwischt und hatte keine Diagnose der aktuellen Situation, und bis heute ist es ja so, daß es eher defensive Positionen gibt, keine Modelle oder keine offensiv auftretenden neuen, linken Einschätzungen der Lage.
A.v.D.: Vielleicht ist eine Veränderung auch dadurch so deutlich, daß die wirtschaftlichen Strukturen dem, was man als konservativ oder als rückschrittlich empfindet, eine Art Deckung verleihen.
D.D.: Das meine ich, wenn ich sage, daß die historischen Bedingungen andere sind – wobei natürlich die Wahrnehmung der veränderten Verhältnisse als eben unausweichlich ihrerseits eine ideologische Komponente hat; aber das hat sich, zumindest als generelle Weltsicht, weitgehend durchgesetzt: Es geht jetzt nicht anders, es muß so sein, wir haben gar keine Wahl. Ich habe einmal darüber geschrieben, daß nach ’90 immer– eigentlich in allen neuen Diagnosen – dieser Slogan kam: Jetzt ist alles möglich, und alles ist entschieden! Das war ja sozusagen der eigentümliche, paradoxe Slogan: Juhu, der Osten ist frei! Alles ist möglich, aber jetzt ist auch gleich entschieden, wie alles geht.
A.v.D.: Es ist in diesem Zusammenhang und in Hinblick auf verschiedene Formen des Diskurses als ein Indiz respektive als Kriterium die Tendenz zum Konkreten ausgemacht worden – womit wohl suggeriert werden soll, ein Beharren im Abstrakten sei bereits ein Ausweis für fortschrittliches Denken. Dennoch könnte das zeitweilige Festhalten am Konkreten auch einen Widerstand gegen die Enteignung der Dingwelt durch Medialisierung, auch durch Kommerzialisierung, gegen die Manipulation (eine fremdbestimmte, nicht eigensinnige, womöglich schöpferische Manipulation) der Begriffe bedeuten: Indem ich mich bewußt – und befristet – in einem beliebigen Verhältnis zu den Dingen arretiere, verwahre ich mich gegen die Einverleibung in einen mittlerweile fast wahnhaften Kontextualisierungsbetrieb, mithin gegen den Konformismus unserer Tage.
D.D.: Ich finde, man muß da den Begriff des Konkreten aufbrechen – in verschiedene Konkreta. Wenn es darauf hinausliefe, daß man das Beharren auf dem Konkreten also dem konservativen Impuls zuordnet und die Abstraktion dem Versuch, dem Einhalt zu gebieten, dann ist das nur ein Teil der Konstellation. Es gibt das Konkrete im reinen politischen Diskurs – eine Konkretheit, die der Konservative einklagt -, und das sind eben die ökonomischen Fakten: Wenn ich nicht sofort hier allen meinen Arbeitern den Lohn kürze, dann muß ich leider nach Korea gehen. Dann kann ich noch so oft sagen: Das ist aber ungerecht! Das interessiert mich gar nicht mehr... würde mich als sozialer Unternehmer durch-aus interessieren – bin ja nicht böse, aber ich kann’s mir nicht leisten; es geht nicht, sonst sind die Arbeitsplätze weg! Das ist eine Art von konkreter Argumentation - einer Argumentation mit dem Konkreten -, die in der Tat einen konservativen Diskurs unterfüttert; und dagegen zu beharren darauf, daß man das Verhältnis von Gerechtigkeit, von Zumutbarkeit, überhaupt die ganzen sozialen issues auf einer abstrakten Ebene erst einmal rekonstruieren muß, um sie als Argumente gegen diese banale und interessegeleitete Argumentation wirkmächtig machen zu können – das ist eine Seite. Von Seiten der Linken wird dann meist mit einem anderen Konkretismus geantwortet wird (wenn ich an die Konjunktur denke, die zum Beispiel das Thema „Stadt“ im letzten Jahrzehnt hatte, die Begeisterung für dokumentarische Darstellungsweisen), also auch mit einem nicht hintergehbaren Argument, das sei aber konkrete Wirklichkeit, das könne man ja wohl kaum noch mit dem Verweis auf das Ökonomische geschehen lassen, was man hier doch deutlich sehen könne - um zugleich eine Ermächtigung aus dem Konkreten zu holen. Die Linke, der gerade die abstrakten, allgemeinen Welterklärungen ausgegangen sind, mit denen man politisch handlungsfähig werden könnte, beharrt denn auch darauf: Ich kann jetzt nicht Bundestagswahlen gewinnen, und ich kann auch nicht den Weltwährungsfond beeinflussen; aber ich kann hier in der Stadt, im Viertel, kleine Politik machen, und da kann ich tatsächlich Verhältnisse verändern. Da ist also eine Betonung des Konkreten auf beiden Seiten.
A.v.D.: Natürlich ist eine Art von Konkretismus auch schon im Zusammenhang mit Umweltpolitik sehr lebendig geworden – wenn es hieß, das sei nachweisbar, absehbar ökonomisch Unsinn, wenn man hier so und so vorgeht - also sehr handfest nachweisen konnte, dies richte Schaden an und sei nicht nur in einem weltanschaulichen Sinne zu verabscheuen.
D.D.: Und so argumentiert ja auch ein großer Teil der global angelegten Kapitalismuskritik – dass der Kapitalismus nicht nur moralisch falsch ist, sondern gewissermaßen seine eigenen Ziele nicht erreicht, also daß die Verwertung als Prinzip natürlich immer an ein Ende gerät und, je mehr Regionen der Welt, des Lebens, des Gesellschaftlichen ich zur ökonomischen oder ökonomisierbaren erkläre, ich desto weniger ein Außen habe, das aber für ein auf Expansion aufgebautes Modell notwendig ist. Aber ich würde erst einmal sagen, daß es zwei verschiedene Konkretismen sind, mit denen eine konservative Wirtschaftsideologie und deren linker Widerpart agieren – nämlich, die einen mit der Konkretheit der Lebensverhältnisse, mit dem nicht hintergehbaren Konstatieren einer Unerträglichkeit von Lebensverhältnissen, und die anderen eben mit den angeblich nicht hintergehbaren ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Da stehen sozusagen zwei Konkretismen gegenüber; und dann gibt es den selben oder einen ähnlichen Konflikt auf der Ebene der Künste, und dort sieht das ein bißchen anders aus. Wenn du den Kontextualisierungswahn als den Konformismus unserer Tage beschreibst, denke ich, daß sich auch da zwei Positionen gegenüberstehen, wobei bestimmte Verkennungen am Werke sind. Die konservative Begeisterung für die sinnliche Oberfläche und nicht für den konkreten Gegenstand, auch nicht für das Konkrete der Medialität, der Träger - das, was Rosalind Krauss den „support“ nennt -, sondern die Begeisterung für die Sinnlichkeit der konventionalisierbaren Oberfläche...
A.v.D.: Das wäre sozusagen eine Begeisterung für den unverfälschten Gegenstand...
D.D.: Oder für einen, der gar kein Gegenstand ist, sondern für eine Seite des Gegenstandes, die überhaupt erst ideologisch konstruiert werden muß; denn wenn, sagen wir, Ulrike Knoefel im „Spiegel“ die Sinnlichkeit der Kunst gegen die sinnenfeindliche Abstraktion aufrechnet, dann meint sie ja nicht die durchaus sinnlichen Komponenten etwa von Barnett Newman, sondern dann geht es ihr darum, wieder ein „Frühstück im Grünen“ zu haben; und ihr ist dann völlig egal, ob das auf Leinwand gemalt ist, sondern es geht ihr letztlich um diesen Gegenstand, und den trennt sie – eigentlich ganz unsinnlich – von den Materialitäten, die diesen in einem künstlerischen Kontext tragen. Auf der anderen Seite gibt es eine - auch kontextualistische - linke Gegenreaktion, die den Denkfehler macht, zu glauben, daß der Kontext der Kunstwerke auf der Ebene es sachlichen Gehalts oder der Thematiken liegt; das ist eben nicht eine Kontextualisierung, wie ein Michael Asher sie angestoßen hat, sondern das ist eigentlich eine journalistische Vorgehensweise. Da würde ich der Kritik durchaus zustimmen und sagen, daß die journalistische Bebilderung oder Kontextualisierung von Kunst tatsächlich ein Mißverständnis ist – sowohl dessen, was Kunst überhaupt leisten kann, als auch der speziellen kontextualistischen Ansätze in der Moderne oder der Postmoderne, im Grunde auch ein Sichverkaufen an Darstellungsformen und Vermittlungsformen, die ihrerseits eher konservativ sind, weil sie aus diesem anlaßbezogenen Journalismus kommen, der Phänomene gar nicht wahrnimmt, sondern auf eine vorab geleistete Diagnose sich bezieht, die Diagnose nicht mehr herstellt. So etwas hat man oft heutzutage: Kunstausstellungen, die ein Thema haben, und das Thema ist der künstlerischen Bearbeitung völlig heterogen; man stellt irgendetwas zusammen, das sich auf irgendetwas bezieht, lenkt aber den Blick vollkommen davon ab, wie es das tut, warum und mit welchen Mitteln – zugunsten des Themas, wie es auch ein „Stern“-Redakteur definieren würde. Das ist ein Problem; aber der Konformismus daran, meine ich, ist nicht der Kontextualismus und nicht diese bestimmte Richtung bildender Kunst, sondern eher, daß es etwas wie die liberale Version von Event-Kultur ist. Ich glaube, daß das viel eher dort hineingehört, also in den Versuch, Kunst generell zu entmündigen und nur noch ertragen zu können, wenn sie als eine mit einem Reise-Package der Deutschen Bahn und einem Hotel-Package verbundene Reise verkauft werden kann – und daß eine gewisse linke Kuratorenwelt auch darauf hereinfällt und glaubt, dies sei in irgendeiner Weise kontextualistisch in dem Sinne älterer kontextualistischer Kunst; aber das ist nicht der Fall. Insofern würde ich der Kritik zustimmen, aber ich würde sie anders einsortieren; ich würde nicht sagen, daß das seinerseits ein linker Konformismus ist, ein irgendwie falsch gewordener Kontextualismus, sondern daß das tatsächlich eher durch seine Funktion in der heutigen Kulturproduktion in diese Richtung gehört.
A.v.D.: Es ist wohl ein Mechanismus, der tatsächlich von einer journalistischen Seh- und Rezeptionsweise mitbestimmt wird - also, Zusammenhänge thematisch festzumachen, was es dann auch erleichtert, sich irgendwann wieder sehr unbekümmert auf die Sujets einzulassen und sich nur darüber zu verständigen : das „Frühstück im Grünen“, das gewissermaßen als Vorwand...
D.D.: Ja, es ist dann unwichtig, ob das abzulösen wäre...
A.v.D.: ...ob das projiziert wird oder Öl auf Leinwand...
D.D.: Diese Ablösung des Sujets von dem, was Kunst - oder die bildende Kunst, von der wir jetzt reden – ausmacht, ist in der Tat etwas, was beide Seiten gemeinsam haben.
A.v.D.: Ich greife eine Frage wieder auf: Der Eindruck, daß auch im öffentlichen Gespräch mit einer gewissen Entdeckerfreude Befunde, Einschätzungen, Beobachtungen vorgetragen werden, über die man sich vielleicht schon vor einer halben oder ganzen Generation hätte beruhigen oder auch aufregen können. Wenn ich spekulieren darf – könnte es sein, daß unsere Generation, die wohl wie keine andere zuvor über Mittel und Techniken (technische Vorrichtungen) zur Beschaffung und Verarbeitung von Informationen verfügt, die zudem das Gebot der Aufklärung zum einen radikalisiert, zum anderen von jeglicher Utopie abgelöst und gleichsam verinnerlicht hat, also in einer Furcht, sich etwas vormachen zu lassen, in einem Ehrgeiz, alles zu durchschauen, sich zu einer manischen Selbstbestimmung und -vergewisserung verurteilt hat, einem Drang, sich immer wieder aufs neue in periodische Zusammenhänge einzuordnen, der umso weniger zu stillen ist, als er das eigentliche historische Bewußtsein konterkariert oder unterminiert – ein Bewußtsein, das nun einmal, im Hinblick auf ein Gesetz jeglicher Zeitläufe, affirmativ bestimmt und in diesem Sinne auch konservativ ist?
D.D.: Ja, ich verstehe daran eines nicht: Wieso ist das historische Bewußtsein affirmativ bestimmt und in diesem Sinne auch konservativ – weil es nicht bestreiten kann, daß Geschichte vergangen ist?
A.v.D.: Vielleicht in der Annahme - gleichsam einer Spielregel - eines Zusammenhanges zwischen der Idee einer Wiederkehr und dem Aspekt der Abwandlung. Das heißt, daß ich, um Veränderungen registrieren zu können und dafür sensibel zu sein, akzeptieren muß, daß es Strukturen, daß es...
D.D.: Konstanten.
A.v.D.:...Konstanten gibt, daß es Muster gibt, Wiederholung.
D.D.: Also, wenn ich dich richtig verstehe, dann meinst du, daß die Leute, denen du das gewissermaßen vorwirfst, eine undialektische, reine Entwicklung glauben leben zu können, in der sich nichts wiederholt; und denen wirfst du zwei Dinge vor: daß es in ihrem Leben und in ihrer kulturellen Praxis schon beobachtbare Entwicklungen gegeben hat – solche Diagnosen, über die man sich längst hätte beruhigen können -, und zum anderen, daß es schon vom Denken her falsch ist, weil sich die Veränderung immer nur vor dem Hintergrund einer Konstanz vollziehen kann.
A.v.D.: Ja, wobei das Gegenmoment und die Gefahr in der Annahme einer bloß fortlaufenden Entwicklung eben die ist, sich in diesem zunächst vielleicht theoretisch diskutablen Entwurf zu verfestigen und eine künstliche Gegenwart zu schaffen, in der man die Entwicklungen irgendwann in einem Unbestimmten ansammelt und zu einer Verfügungsmasse nur noch vornimmt, um daraus Modelle zu entnehmen, die lediglich gegenwärtige Befindlichkeiten – fast als modische verstanden – belegen sollen. Dieses Immer-wieder-zurückkommen - was ja auch ein Immer-wieder-auf-Null-stellen ist, immer wieder so tun, als hätte man es vor zwanzig Jahren nicht auch schon bemerkt - scheint mir einem Bedürfnis zu entsprechen, sich nicht auszurichten, sondern sich gewissermaßen zu verschanzen, sich in einem ständigen Heute zu verbarrikadieren, das es einem erlaubt, immer wieder beliebig in einem Fundus sich etwas herauszugreifen, das es einem aber erübrigt und erspart, die Gegenwart als etwas zu verstehen, das sich ohnehin immer öffnet auf ein Künftiges, in dem ich mich orientieren muß und in dem ich nicht nur mit Begriffen mich aussetze, sondern auch in einer Art von – wie auch immer hochentwickelten und bewußten – Offenheit.
D.D.: Was wäre denn ein Beispiel dafür?
A.v.D.: Wenn ich schon von dem Modischen sprach – das kann sehr banal sein, sei es, daß Begriffe
wie „Frau der Neunziger“ geführt werden, also ein Typus annonciert wird, von dem ich dann, wenn die Beschreibung folgt, mir vorstelle: Nun ja, den hatte ich eigentlich schon in den siebziger Jahren ausgemacht. Das ist vielleicht nur ein Beispiel für ein schlechtes Gedächtnis; aber dieses schlechte Gedächtnis scheint mir auch kultiviert zu werden – in einem Bedürfnis, immer wieder in einen Stand der Unschuld zu kommen, nicht aber, um neu anzufangen, sondern um eine Entwicklung, die man am eigenen Leibe austragen müßte, abzuschneiden.
D.D.: Ich kann mir natürlich gut vorstellen, daß es Leute gibt - dann auch eine wieder nostalgische Bezugnahme auf Epochen, in denen die Welt offener war, in denen die individuellen Handlungsmöglichkeiten mehr Resonanzen in den gesellschaftlichen oder historischen Entwicklungen hatten; und daher sucht man sich Lebensbereiche – die Stadt oder Entwicklungen der Genderpolitik –, von denen man glaubt, dort sei ein größerer Handlungsraum noch möglich; und um den noch aufzuwerten, benutzt man den Begriff oder bezieht sich auf Konstellationen, als eben solche Utopien, seien es stadt-bezogene oder genderpolitische – obwohl die auch einen politischen Hintergrund hatten...Aber eigentlich denke ich, die Leute wissen schon auch, daß sie nicht in den Siebzigern leben; ich wüßte jetzt nicht, wer diesen Fehler macht – von denen, die kulturell relevant sind.
A.v.D.: Dann will ich meinen Eindruck aus den letzten vier, fünf Jahren wiedergeben: Da sehe ich (unter denen, die überhaupt Dinge wahrnehmen und reflektieren und besprechen) zwei Abteilungen gewissermaßen, von denen ich dann im stillen denke, daß sie, auf zwei verschiedenen Schienen oder Spielwiesen, die achtziger Jahre ein bißchen verschlafen haben – die einen auf der Akademie, die anderen in der Subkultur, unter ganz verschiedenen Vorzeichen, Verblendungen, die damals vielleicht auch produktiv waren, die es ihnen aber verboten haben, das Gesichts- und Blickfeld zu öffnen, um Entwicklungen wahrzunehmen, die sie heute mit einem gewissen Mutwillen auszumachen glauben. Es ist also der Eindruck eines großen Nachholprozesses, der, wie gesagt, auch künstlich betrieben oder am Leben erhalten wird, um nicht weitergehen zu müssen.
D.D.: Und was wären das für Entwicklungen in den achtziger Jahren, die diese Leute verpaßt haben?
A.v.D.: Ich meine, daß, wenn man, was ja eine große Verführung ist, sich im dritten Lebensjahrzehnt in eine Gruppe einordnete - eine bestimmte Kultur, die man sich zum Teil auch selbst geschaffen hat, zum Beispiel das Berlin der achtziger Jahre, mit bestimmten Fixpunkten, Szenen, auch Umgangsformen, bis hin zu Cliquenbildungen -, um sich darin zu verstehen, man sich auch sehr abschottete, vieles ausschließen mußte, nicht wahrnehmen durfte; vieles war nicht gesprächsfähig...
D.D.: Aber was ist sozusagen der große...
A.v.D.: Zum Beispiel, daß, wie es vorhin schon anklang, gewisse Begriffe wieder etwas gelassener und nüchterner in Betracht kamen: dazu gehörte der Pathosbegriff, Formen der Inszenierung im Theater – das Statuarische, Rituelle, oder auch der gestochene Vortrag und nicht mehr ein...
D.D.: Das lockere...
A.v.D.: ...etwa naturalistisches Beiseitesprechen – daß dagegen solche Aversionen bestanden, daß manches, was daran vielleicht hätte interessant oder bedeutsam sein können, nicht wahrgenommen wurde, und gewisse Verblendungen, die nötig waren, um ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Gruppe zu erhalten, verhinderten, daß man auch das, was zur Gruppe vielleicht hätte gehören können, nicht mehr wahrgenommen hat; daß zum Beispiel, wenn über Liebe gesprochen wurde und noch Ideen in die achtziger Jahre hineingeschleppt wurden – wie: Eifersucht darf es ja gar nicht geben -, man sich den Zugriff auch auf Quellen verbot, die eine andere Diskussion ermöglicht hätten.
D.D.: Also, um dein Argument zu rekonstruieren, wäre es ja so, daß die Leute, wenn sie in den achtziger Jahren ein bestimmtes Theater verpaßt haben, dadurch in den Neunzigern oder noch später irgend etwas anderes falsch einschätzten – das ist der Punkt. Und ich verstehe immer noch nicht ganz genau, welche zur Zeit wirksame Verblendung sich diesem Subkulturalismus oder Partikularismus der achtziger Jahre, den du beschrieben hast, direkt schuldet. Wenn du vorhin gesagt hast, einen Heimatbegriff hätte es auch damals schon gegeben und man hätte sich auch damals schon aufregen oder nicht aufregen können, dann wäre mein Gegenargument: Nein, das hat es zwar gegeben, und darüber hat man sich auch ein bißchen aufgeregt; aber es war nicht virulent, es war nicht angeschlossen an irgendetwas – es gab kein wiedervereinigtes Deutschland, das diese Heimat hätte sein können; sondern es war eben ein Begriffsspiel, und deshalb war auch der Widerstand dagegen nicht massiv – man mußte sich damit ja nicht beschäftigen (es war auch von Edgar Reitz ein bißchen anders einge- klammert). Jetzt hat es ein anderes Signifikat – jetzt schon wieder nicht mehr, aber 1994 hätte es ein anderes gehabt.
A.v.D.: Aber ich erinnere mich, daß zum Beispiel 1988 Martin Walser sich sehr laut und kräftig hervortat, mit einer Formel: Ich möchte es für selbstverständlich halten, heute Abend nach Erfurt zu fahren, und dies muß ich aussprechen können. Und das, was er damit in die Welt setzte oder in die Diskussion brachte – sich nicht mit dem Status quo begnügen zu wollen –, meinte wohl auch, daß ein Unbehagen an dem bloß Akzeptierten so ausgesprochen werden sollte, daß es die Dinge bewegen mag.
D.D.: Also, erst einmal ist Walser auch damals schon als Nationalist identifiziert worden – jedenfalls habe ich als damaliger Mitarbeiter der Zeitschrift „Konkret“ das so mitbekommen. Aber ich denke, es ist trotzdem so, daß 1984 es zu Beispiel auch etwas anderes war, zu sagen, der Antifaschismus wird instrumentalisiert – von sozialdemokratischer Seite; das war eine Kritik, die von Leuten kam, die man keineswegs zu den Konservativen rechnen konnte – eine Denkfigur, die zehn Jahre später etwas ganz anderes bedeutet hätte. Zehn Jahre später zu sagen, der Antifaschismus wird von den Sozialdemokraten instrumentalisiert, war ganz klar eine rechte Denkfigur, die mit der deutschen Geschichte anders umgehen wollte; 1984 war es eine Denkfigur, die mit einer bestimmten aktuellen Kulturpolitik anders umgehen wollte, und bedeutete folglich etwas anderes. Sehr vieles von dem, was in den achtziger Jahren an einem Denken jenseits der, sagen wir, Klassiker einer links-aufklärerischen Philosophie ausprobiert worden ist, wurde in einem Raum ausprobiert, der relativ konsequenzlos war und der sich tatsächlich auf Experimente in den Künsten bezogen hat - Denkexperimente aller Art - und eben dekontextualisiert war und rein spielerisch stattfand; und auch da gab es natürlich scharfe Auseinandersetzungen – teilweise waren sie sogar noch aggressiver, weil es alles so bodenlos war; aber es war eben bodenlos. Ich habe vor kurzem die Filmversion von Jürgen Teipels Buch “Verschwende deine Jugend“ gesehen – nicht den Spielfilm, sondern diesen Dokumentarfilm: vieles davon kennen wir auch wieder aus anderen, Neunziger-Jahre-oder gegenwärtigen Szenen; aber der historische Hintergrund ist ja der, daß man die letzten Jahre der Regierung Schmidt erlebt - auf die bezieht sich das. Daß das Repertoire an künstlerischen Modellen, auch an historischen Erzählungen begrenzt ist, daß man also immer wieder „Don Carlos“ oder „Hamlet“ aufführt, ändert ja nichts daran, daß diese „Hamlets“ sehr verschieden sein können und sich noch auf andere Dinge beziehen.
A.v.D.: Ich müßte wohl eher sagen – damit nicht der Verdacht aufkommt, es ginge hier darum, man dürfe in einem bestimmten Jahr etwas nicht mehr behandeln, weil das vor zwanzig Jahren schon in „Vogue“ stand -, daß die Art, in der man im Jahre 2005 etwas diskutiert, davon beeinflußt ist, wie man, über das selbe Thema vielleicht, im Jahre 1982 schon einmal nachgedacht hat; und wenn man dies 1982 nicht getan hat, dann diskutiert man im Jahre 2005 auf eine andere Weise – wenn man fünfundvierzig ist, zum Beispiel. Nun mag dieses schlechte Gedächtnis - ich will es jetzt nicht umformulieren - in einem Bedürfnis kultiviert werden, sich zu verriegeln in einem ständigen Heute, das den Spielraum unendlich erweitert wie zu einer großen Kiste, aus der man immer wieder Dinge herausgreifen kann, um sie immer wieder neu zu besprechen.
D.D.: Die Funktionsweise dieses Bewußtseins habe ich verstanden. Ich weiß nur nicht genau, wer dieses...
A.v.D.: Ich habe jetzt auch keinen Feind im Blick.
D.D.: ...auf wen sich diese Diagnose bezieht. Ich habe nur eine Vermutung - noch eine andere als die, die ich eben formuliert habe: Natürlich gibt es eine Auffälligkeit, und das ist die, daß im Zuge einer Konvergenz der Künste – die Tatsache also, daß sehr viel mehr als vor zwanzig Jahren bildende Kunst, Theater, Kino, Pop-Musik, E-Musik, sich mit ähnlichen Dingen beschäftigen, ähnliche Mittel einsetzen, oft sogar mit Software von den gleichen Herstellern arbeiten, vor allem in den digitalen Jahren, also in den letzten zehn Jahren - Leute Künste entdecken, mit denen sie sich nie beschäftigt haben: Theaterleute die bildende Kunst und umgekehrt, Filmer die E-Musik – Klanginstallation ist das beste Beispiel solche Art hybrider Produktion; und das führt tatsächlich dazu, daß die jeweils entdeckten Künste ohne ihre Geschichte behandelt werden, beziehungsweise mit einer sehr merkwürdigen, selektiven Wahrnehmung dieser Geschichte; und erst recht fehlt das Gedächtnis für bestimmte Diskussionen. Das kann ich an mir selbst in Bezug auf Theater beobachten: Da ist es so, daß ich mich bis in die frühen Achtziger und dann erst wieder seit den frühen Neunzigern mit Theater beschäftigt habe; deswegen fehlen tatsächlich die achtziger Jahre im Theater. Ich kenne sie natürlich aus Erzählungen, und ich habe irgendwann natürlich doch einmal eine Inszenierung gesehen; aber das ist mir sozusagen nicht als Diskurswelt präsent – das muß man dann jedesmal wieder erfragen. Das ist allerdings solch ein Phänomen – daß man zwar punktuell die offizielle Geschichte kennt, aber nicht, was da sonst noch alles diskutiert und geredet worden ist. Aber da kann ich jetzt von mir sagen: Mir fehlt nicht das historische Bewußtsein dafür, sondern das ist ein Phänomen der Tatsache, daß eben heute in all diesen Künsten so konvergent gearbeitet wird, daß alle sich immer auch auf alles andere beziehen – oder auch alles einbeziehen – und dann hin und wieder aus den einzelnen Disziplinen Einwände kommen - wie: Moment mal, das hat aber LaMonte Young damals schon...sagt man dann von der Musik aus den Theaterleuten. Aber das ist, glaube ich, ein Phänomen, das mehr mit der aktuellen Entwicklung zu tun hat, also nicht mit dieser kulturpsychologischen Diagnose, die du beschrieben hast – von dem Sich-einrichten in einem ewigen Jetzt und damit einer ewigen Verfügbarkeit über alle anderen Epochen, wo keine Kenntnis oder keine lebendige Erinnerung an historische Entwicklung vorkommt. Wenn man jetzt eine Kulturgeschichte der Debatten sich ansieht – vom Historikerstreit I über Mahnmal zum Historikerstreit II, Walser, Bubis, Dohnany etc. -, wo ja auch oft gesagt wurde, das seien immer wieder die selben...das ist nicht wahr; diese Diskussion hat sich wirk-lich sehr stark verändert. Oft ist es tatsächlich so, daß die Diskutanten, ohne zu wissen, was theoretisch, was kulturell um sie herum passiert ist, ihre Argumente sehr stark geändert haben; wenn ich daran denke, wie in der Bubis-Dohnany-Debatte diskutiert worden ist – im Gegensatz zum Historikerstreit I, auch einmal als Habermas-Debatte bekannt -, dann fällt auf, ohne daß ich glaube, daß die Beteiligten die entsprechenden Texte gelesen haben, daß das Ganze poststrukturalistisch durchdrungen ist – bis hin zu Leuten, von denen man nicht erwarten kann, daß sie irgendeinen dieser Texte gelesen haben, wie Bubis zum Beispiel. Insofern – ich weiß nicht ganz genau, wo jetzt dieses von dir diagnostizierte Problem so besonders stark sitzt.
A.v.D.: Vielleicht ist dies beinahe eine ideologische Fixierung meinerseits, das mag sein. Vielleicht bin ich da auch befangen in einem Begriff wie „Erfahrung“ - .was ja etwas anderes ist als über ein Wissen zu verfügen: dies ist in den Jahren ab ’85 diskutiert worden, der Artikel von Nolte ist in der FAZ erschienen, und dann ist von Habermas in der „Zeit“ darauf geantwortet worden; das kann ich nachschlagen - wobei es ja schon ein Unterschied ist, ob etwa der Volontär einer Zeitung, wenn er zum Beispiel über die Entwicklung der „Schaubühne“ in Berlin schreibt, sich dies aus zweiter und dritter Hand zusammenleimen muß, oder ob jemand in den Jahren ’70 bis ’90 das miterlebt hat. Dann hat nicht nur der Text, den jener Volontär darüber schreibt, wahrscheinlich eine andere Qualität, sondern es stimmt auch manches nicht, weil er etwas, das ihm vielleicht erst der ältere Redakteur vermitteln muß, falsch versteht – was wiederum eine Frage der Ausbildung sein mag: daß die meisten, die im Kulturbetrieb arbeiten, ihre Qualifikation auf dem akademischen – und das ist ja immer der zweite - Bildungsweg erlangt haben und dadurch manche Erweiterungen des Feldes sich gar nicht leisten konnten, weil sie auf diesem Bildungsweg nicht mehr die Zeit und die Muße hatten..
D.D.: Das ist heute so, das war damals nicht so...
A.v.D.: Nun ja, das war damals schon auch so.
D.D.: In den achtziger Jahren konntest du noch studieren und ganz viele Dinge nebenher machen. Ich weiß ja, daß wir bei „Spex“ immer Redakteure besetzen mußten und daß wir immer Leute hatten, die eigentlich Studenten waren und auch ihr Studium irgendwie weiterführten und gleichzeitig Redakteure waren; und das endete in den neunziger Jahren. In den mittleren neunziger Jahren waren die Leute alle mit ihrem Studium so beschäftigt, die mußten das, um noch weiter die Stipendien zu bekommen und in den Doktorantenkolleg aufgenommen zu werden, so beschleunigen, daß sie das nicht tun konnten; und dann war dieses Reservoir von Leuten nicht mehr da.
A.v.D.: Ich habe einen Verdacht, der sicherlich nicht politisch korrekt ist – was dieses Dummstellen, dieses Auf-Null-stellen betrifft: Könnte es auch damit zusammenhängen, daß in den letzten zehn, fünfzehn Jahren, natürlich durch die Erweiterung unseres Landes, viele schreiben, handeln, entscheiden, die manche Entwicklungen in der Ästhetik, manche Diskussionen, manches Spielen mit Begriffen eben nicht in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren miterleben konnten, weil ihnen das nun einmal weitgehend verschlossen war, und gewissermaßen eine Anpassung von beiden Seiten aus geschieht - daß es da eine gewisse Rückständigkeit gibt (was man ja niemandem vorwerfen kann, der 1955 in Frankfurt an der Oder lebte – daß er manches vielleicht nicht mitbekommen hat, sich nun aber zu diesem und jenem äußert und Entscheidungen trifft), die hier also ein spezielles Moment oder einen besonderen Grund hat und von jenen, die ohnehin konservativ ausgerichtet sind, ganz gern auch gehegt und gepflegt wird.
D.D.: Es ist natürlich richtig: Es gibt – das würde ich jetzt nicht verallgemeinern - verschiedene kulturelle Milieus der ehemaligen DDR, die auf unterschiedliche Weise nun angeschlossen sind; da gibt es ein brechtisches und ein konservativ-bürgerliches, und beide spielen ihre Rollen heutzutage – in letzter Zeit eher das konservativ-bürgerliche (in den ersten Jahren Heiner Müller, jetzt eher Monika Maron). Wenn man das so heranzieht, dann hat es natürlich eine Funktion für das, was ich vorhin als neokonservativ beschrieben habe: daß hier zum einen eine in sich heile Bürgerlichkeit, nämlich eine, die sehr lange von der politischen Macht ausgeschlossen war, die andererseits aber auch noch den Nimbus hat, daß sie Widerstand geleistet hat, wie auch immer – daß diese Komponenten allerdings sehr willkommen sind, in gewissen Formationen. Aber ich denke auf der anderen Seite, daß der Neokonservatismus, der gerade hegemonial zu werden beginnt, dann doch - wie das meiste, was kulturell so läuft – von ehemaligen Westlern getragen wird. Es gibt eine Instrumentalisierung, wie du sie gerade beschrieben hast - dem kann ich zustimmen; aber ich glaube, die Geschichtsvergessenheit ist das geringere Problem daran. Das größere Problem sind die aktuellen Interessenslagen, und die aktuellen Interessenslagen finden letztendlich zu ihren diskursiven Konkretisierungen immer auf die eine oder andere Weise: die haben da natürlich gutes Material, aber sie bräuchten es auch nicht unbedingt. Nehmen wir einmal an, es hätte keine Wiedervereinigung gegeben, und sehen wir uns andere europäische Kulturzusammenhänge an – französische, italienische, spanische, britische -, dann könnte man ähnliche Phänomene beobachten, ohne dieses besondere. Um noch einmal auf den Begriff der Erfahrung zurückzukommen – den Unterschied also zwischen dem Rückgriff auf Texte und dem Rückgriff auf Erfahrung, und daß die Milieus in den achtziger Jahren durch ihre Geschlossenheit eine gewisse Erfahrung ausgeschlossen beziehungsweise verengt haben: Ich denke, es gibt keinen Ort, von dem aus man das sinnvoll beobachten kann, denn es gab nur geschlossene Milieus; es gab keine Attraktivität der gesamtgesellschaftlichen Erfahrung (weniger als heute, da wir eben diese Konvergenz Beobachten können), sondern es war ein Zug der Zeit, auch eine Erfahrung der Epoche der achtziger Jahre, daß historische Erfahrung nur im Milieu zu machen war, weil es – was damals auch diese ganzen, sehr populären Theorien von Baudrillard und anderen sehr gestärkt hat – keine historische Makro-entwicklung gab, auf die man sich beziehen konnte, aber auch nicht – was es heute gibt – das ganz eindeutige, klare Gefühl, daß das verhindert wird. Heutzutage kann man sagen, es gibt durchaus Geschichte – die erkennt jeder, jeder sieht, was gerade passiert -, es gibt massive geschichtliche Entwicklung, nur haben wir keinen Zugriff mehr auf sie; sie geschieht sozusagen ohne uns, die Gesetzmäßigkeiten fragen uns nicht. In den achtziger Jahren war das nicht so; man hatte nicht das Gefühl, man sei von der Geschichte ausgeschlossen, man hatte aber auch nicht das Gefühl, daß überhaupt Geschichte stattfindet; sondern es war die Erfahrung der Zeit – das wurde nie so ausgesprochen, aber es war das geheime Einverständnis –, Geschichte gebe es nur dann, wenn man in einem bestimmten Milieu, das man gewissermaßen selbst organisiert, Entwicklungen produziert, beobachtet und sich darüber verständigt: Das war die Bedingung dafür, Erfahrungen zu machen - andere Erfahrungen auszuschließen. Das heißt aber, glaube ich, nicht, daß diejenigen, die auf diese Art und Weise sozialisiert worden sind oder sich sozialisiert haben, notwendigerweise davon ausgeschlossen sind, darauf einen Rückgriff haben zu können – als eine bestimmte historische Beschreibung. Es gab ja in den neunziger, vor allem in den späten neunziger Jahren immer wieder Diskussionen über das Leben in den achtziger Jahren; also die achtziger Jahre waren ja einmal Thema - speziell diese Seite davon -, weil es eben die Alternative gab, das weiterzumachen oder nicht weiterzumachen. Das wurde richtig ausgesprochen; ich kann mich an viele Texte, etwa in „Texte zur Kunst“, „Beute“ etc. erinnern, in denen genau das thematisiert wurde: Wie gültig ist noch das Konzept „Subkultur“?
A.v.D.: Ich will mich jetzt natürlich nicht zum Zeugen stilisieren; aber ich hatte schon den Eindruck (und glaube, das auch so erlebt und genutzt zu haben), daß gerade Berlin, das ja sinnigerweise auch sehr abgeschlossen war, durch die Ansammlung sehr verschiedener Figuren – seien es die Künstler, die hier studierten, überhaupt die Leute, die den Wehrdienst verweigern wollten und deswegen nach Berlin kamen -, eine große Fläche bot, auf der man tatsächlich mit mehr als ein oder zwei Gruppen korrespondieren konnte. Nicht nur, daß dort in Einzelner, aus glücklichen Umständen etwa, den großen Rundblick sich hätte erlauben können; sondern ich glaube sogar, daß es das Spezifische war, daß sich diese Gruppen und Cliquen und Organisationen tatsächlich untereinander vielleicht nicht verständigt haben, aber daß es sehr wohl große Überschneidungen gab, nur daß man diese nicht so recht zur Kenntnis nehmen wollte. Es gab ja durchaus auf dieser Party, auf jener Veranstaltung immer wieder Leute, die eigentlich nicht dazugehörten; aber das, was diese Veranstaltung, diese Party ausmachte, war eben dies, daß immer wieder Leute dabei waren, die nicht dazugehörten; das wollten dann aber vielleicht achtzig Prozent nicht wahrnehmen, weil es sie in ihrem Selbstverständnis tangiert hätte. Also, es hätte schon, meine ich, die Möglichkeit gerade hier und damals gegeben.
D.D.: Ja, aber dann hätte es sie gerade nicht gegeben, eben weil das ihr Selbstverständnis und damit die Voraussetzung, Erfahrung zu machen, tangiert hätte. Ich glaube, daß jeder in der Zeit, auch in Köln oder Hamburg, durchaus die Erfahrung gemacht hat, daß es verschiedene, jede für sich verbindliche Welten gab, und auch jeder mit zweien, vielleicht auch mit dreien sehr vertraut war, aber daß die Bedingung, unter der man sehen konnte, daß es noch eine zweite und dritte gibt – und dann auch noch sieben andere, mit denen man vielleicht gar nichts zu tun hatte, aber von denen man wußte, daß es sie gibt –, eben die war, daß man eine Art von Zugehörigkeitsgefühl hatte, und zwar in Bezug auf die Tatsache, daß man seine Projekte nur verfolgen und damit auch Erfahrung machen konnte, wenn man von dieser Verbundenheitsmaxime ausging. Ich meine, daß erstaunlicherweise auch Reflexionen über diese Situation (als Problem oder als etwas Spezifisches oder Vergängliches) massiv in den frü-hen Neunzigern auftauchten – als es nämlich vorbei war. Da tauchte das ganz massiv auf, als Thema von Romanen, Essays etc. – wie man strukturiert darüber war, daß man von dort herkam und nicht von dort. Es gibt auch viele - Autoren oder nicht -, die nach wie vor darauf insistieren, daß es besser so war, und die versuchen, es weiterzumachen; es gibt nach wie vor Welten, die so funktionieren und die dieses Prinzip auch hochhalten; es ist ja nicht ganz verschwunden. Aber ich glaube, sie sind sich gegenseitig kenntlich; man weiß, es gibt Leute, die leben nur in der elektronischen Musikwelt, und die haben sich dazu durchaus aufgrund der Kenntnis entschieden, daß es sowohl andere Welten gibt, als auch die Möglichkeit, sich heutzutage eben nicht mehr von einer Welt aus selbst zu beschreiben. Zeit-schriften wie „De:bug“ werden zum größten Teil von Leuten vollgeschrieben, die diese Entscheidung getroffen haben, aber durchaus in Kenntnis anderer Möglichkeiten; und es schreiben auch Leute dort, die anders funktionieren. Ich glaube, daß in Berlin, im sogenannten Neuen Berlin, sehr stark und von verschiedenster Seite der Versuch gemacht wurde, das aufzubrechen; von allen möglichen kulturellen Projekten, gerade in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, ist das in den Mittelpunkt gestellt worden. Vielleicht ist die Rekonstruktion dieser Achtziger-Jahre-Situation etwas, was uns unmittelbar bevorsteht – nicht zuletzt natürlich wegen der ökonomischen und kulturpolitischen Rahmenbedingungen; denn das hat ja auch immer damit zu tun, daß es Gelder, Institutionen etc. gab, die es erlaubten, auf anspruchsvolle Weise wieder das Ganze nicht nur zu denken, sondern auch Projekte zu leasen – wenn nicht das Ganze, so immerhin mehr als die Spezifika, die man vorher gelebt hat. Inwiefern das für län-gere Zeit noch möglich sein wird - das halte ich, nun ja, für umstritten.
A.v.D.: In diesem Zusammenhang möchte ich noch einen Begriff ins Spiel bringen, da wir ja bisher von Zeitläufen, Zeitabschnitten so viel gesprochen haben, auch von der Art und Weise, wie man dies tut, meines Erachtens überwiegend. Wenn ich dieses Bedürfnis noch einmal annehmen und voraussetzen darf – sich also zu versperren in einem Heutigen, auch um ein nicht nur altmodisch verstandenes Erwachsen-werden möglichst lange hinauszuzögern: daß dies auch verhindert, wenn wir von Historie sprechen, diese nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich zu verstehen – was mit dem Begriff „Erfahrung“ nach meinem Verständnis zusammenhängt.
D.D.: Also, die räumliche Dimension von Geschichte – und mit dem Räumlichen meinst du Lokalisierung?
A.v.D.: Das würde jetzt eine große Diskussion über den Geschichtsbegriff eröffnen – daß sich dies ja nicht nur aus einem großen Vorrat aus Daten und Wissen speist, mit dem wir mehr oder weniger bewußt, präzise, detailliert korrespondieren, sondern etwas, das auch in die andere Richtung sich öffnet, für das ich mich auch offen halten muß, da ich sonst Geschichte nicht wirklich erlebte und auch keinen wirklich entwickelten Geschichtsbegriff hätte.
D.D.: Mit der anderen Richtung meinst du die Zukunft – oder die hereinbrechende Zukunft...
A.v.D.: Eine Zukunft, die sich noch nicht begrifflich erfassen läßt und die auch nicht in bloßen Lebensentwürfen sich erschöpft.
D.D.: Und was ist die Frage diesbezüglich?
A.v.D.: Ob dies abgeschnitten wird, aus einem Bedürfnis, in jenem Heutigen, in dem alles verfügbar ist, zu bleiben – was auch zurückführt zu dem Jugendkult, den ich vorhin ein wenig beschworen habe.
D.D.: Also, die Tatsache, daß man eine solche Kompetenz der Verfügung besitzt – auch durch technische und archivarische Mittel einen erleichterten Zugriff auf Vergangenheit hat und daß man auch durch Erfahrung gelernt hat, mit Phänomenen umzugehen -, führt, glaube ich, grundsätzlich dazu, daß man die Gegenwart irgendwie verkennt oder daß man die Zukunft, erst recht das Neue an der Gegenwart zu verkennen tendiert; dafür lernt man aber auch, daß das so ist, und dem wiederum steuert man auch entgegen. Wenn man über bestimmte Begriffe verfügt und mit den Begriffen einigermaßen plausibel sich seine Gegenwart erklären kann, dann wird man diese Begriffe nicht aufgeben oder in Frage stellen; andererseits hat man schon oft erlebt, daß das Nicht-in-Frage-stellen der alten Begriffe angesichts zeitgenössischer Phänomene sich zwei Jahre später als fatal erweist. Das sind beides ungefähr gleichwertige Erfahrungswerte, auf die man – das kann ich von mir nur sagen – unterschiedlich reagiert, auch mit dem Begriff, der in diesem Gespräch für mich seltsamerweise immer so wichtig gewesen ist, nämlich des Interesses. Eigentlich, denke ich immer, ist für mich ein wesentliches Kriterium - auf einer instinktiven Ebene: Gibt es ein starkes Interesse - ein anderes, fremdes, auch machtgebundenes Interesse -, das mich daran hindert, meine Begriffe einzusetzen oder meine Begriffe aufrechtzuerhalten? Dann tendiere ich dazu, sie aufrechtzuerhalten – aus billigem Trotz. Oder ist es so, daß es ein starkes Interesse gibt, das mich geradezu ermutigt, sie aufrechtzuerhalten? Dann frage ich mich schon, was daran falsch sein könnte – nicht aus Ewiger-Rebel-Attitüde, sondern weil dieser starke Zuspruch sich ja immer seltsam anfühlt. Starker Zuspruch - nicht auf das, was man sagt, oder auf das, was man vertritt, sondern auf die Art, wie man Begriffsbesteck anlegt; wenn das so flutscht, ist es natürlich auch immer ein Indiz dafür, daß es irgendwie nicht stimmt oder nicht mehr stimmt. Aber ich denke auch, daß das nicht unbedingt ein Spezifikum unserer Generation, sondern aller Generationen ist, also ein grundsätzliches Phänomen oder Problem der Dauer kultureller Tätigkeit oder Teilnahme: je länger man das tut, desto mehr taucht dieses Problem auf, daß man einerseits über einen Fundus verfügt – von Dingen, die gut funktionieren – und andererseits weiß, daß gerade dieses gute Funktionieren die Crux ist. Aber das ist natürlich eine Situation, aus der es keinen prinzipiellen Ausweg gibt; denn es wäre ja fatal, zu sagen: Mach die Begriffe jeden Tag neu! Das wäre in der Tat ein Rückfall in eine ewige Gegenwärtigkeit – in der gibt es keine Geschichte mehr.
A.v.D.: Es kommt darauf an – nämlich auf die Praxis, in der man sich betätigt und versteht; wenn die Praxis es nicht nur ermöglicht, sondern fast erzwingt – eine schriftstellerische Praxis, zum Beispiel, es einem in gewissen Abständen aufdrängt, die Begriffe immer wieder in Frage zu stellen und dann auch beiseite zu legen und aufs neue zu entwickeln, und die eine andere Praxis als die der Diskussion etwa ist, in der es ja leichter fällt und durchaus auch seine Richtigkeit hat, einfach und beliebig, je nach der Konstellation, auf eingeführte taugliche Begriffe zurückzugreifen.
D.D.: Ich weiß nicht, ob ich das so trennen würde. Jeder Begriff hat nur einen Wert, wenn er einerseits tatsächlich das erklärt oder beschreibt, was er erklären und beschreiben und in Stellung bringen soll – andererseits auf die Gefahr hin, so innovativ zu sein, daß er kaum kommunizierbar ist -, wenn er also diesen Prüfstein, dieses Kriterium hat, daß man mit ihm eine Diskussion führen können muß, daß er irgendwie explizierbar ist, nicht? Ich finde, es ist nicht nur ein Unterschied der Praxis, sondern auch eine grundsätzliche Frage: Das Vergehen oder Bestehen oder Wiedererscheinen von Begriffen hat nicht nur damit etwas zu tun, ob die wie Handwerkszeug gerade passen, sondern ob sie zu bestimmten geschichtlichen Konstellationen gehören, deren Vergehen und Nicht-Vergehen oder Nicht-vergehen-wollen oder Wiederkehr sich gar nicht nach unserem Belieben entscheiden läßt – daß es eben starke äußere Zwänge, zumindest einen starken äußeren Druck gibt, auf bestimmte Begriffe zu verzichten, was auch dazu führt, daß Begriffe verschwunden sind, tatsächlich vollkommen verschwunden sind, die heute vielleicht gar nicht so unpassend wären.
A.v.D.: Eine Frage, die ich noch stellen möchte, gilt einer Gefahr für den Intellektuellen, für seine Fähigkeit also zur kritischen Reflexion und zur Durchdringung der Verhältnisse – daß dadurch, daß die Repräsentanten dieser Verhältnisse (um nicht zu sagen, „der anderen Seite“) inzwischen auch intellektuell so weit geschult sind, daß die bloße Durchdringung oder das Durchschauen, Erfassen und beim-Namen-nennen nicht mehr genügt; diese Begriffe sind gewissermaßen schon vorweggenommen, in die systematischen Abläufe und Zusammenhänge eingearbeitet und einbezogen, so daß für den Intellektuellen die Gefahr darin bestehen könnte - in diesem Befinden, der Wind sei aus den Segeln -, sich mit diesem Besteck und diesem Instrumentarium, das er nun einmal hat, diesen Verhältnissen doch immer wieder nur anzupassen, vermeintlich ihnen standzuhalten, doch eigentlich nur immer wieder sich anzugleichen; daß er, um sozusagen auf der Höhe zu sein, damit fast nur sich einbeziehen läßt - in ein System, das, um sich selbst zu vervollkommnen, natürlich auch Widerstandskräfte gern dienstbar macht. Ob diese Gefahr gestiegen ist – sie hat natürlich immer bis zu einem gewissen Grade bestanden; dies wäre die Frage.
D.D.: Ich glaube, sie ist gestiegen in jener Zeit, als es, speziell in der zweiten Hälfte der Neunziger, darum ging, inwieweit Intellektuelle (sagen wir jetzt einmal „kritische Intellektuelle“) und „Machthaber“ oder „Vertreter der Verhältnisse“ gemeinsame Anstrengungen unternommen haben - anhand von Diskussionen, wie den verschiedenen Auflagen des Historikerstreits und der Mahnmal-Diskussion usw. -, über das Ganze sich auseinanderzusetzen; das sind tatsächlich solche Relais gewesen, die dazu geführt haben, daß alle in ähnlichen Sprachen, in ähnlichen Begriffen sich auseinandergesetzt haben. Aber erstens ist das, glaube ich, vorbei; und zweitens wäre von heute aus auch darauf zu schauen, inwieweit es darin, mehr oder weniger subkutan – damals vielleicht nicht unbedingt virulent in der Diskussion – Verschiebungen und seltsame undercurrents gegeben hat. Aber, abgesehen davon, daß ist es natürlich, wie du gesagt hast, ein grundsätzlich-strukturelles Problem ist -, meine ich, daß es in der gegenwärtigen Lage etwas nachläßt. Wir sind wohl eher in einer Situation wie in den späten Siebzigern; mein Gefühl ist, daß es eine Art Resubkulturalisierung gibt – nicht so sehr an Lebensstilen orientiert, wie es frühere Subkulturen waren, sondern eher, was die Diskussionszusammenhänge oder bestimmte Intellektualitätskulturen betrifft –, daß das wieder auf der Tagesordnung steht. Diese Phasen einer Einbeziehung Intellektueller aller Art in solch ein allgemeines feuilletonistisches Palaver, in dem es ganz klar verteilte Rollen gibt – wer jetzt die kritische Stimme ist und wer jetzt wieder dagegenhält -, das nimmt wohl ab, wobei auch verschiedene Faktoren zusammenspielen, zumal daß die Attraktivität einer einheitlichen Öffentlichkeit des Feuilletons, nach besten Anstrengungen in den frühen oder mittleren Neunzigern, schon wieder zusammenfällt, nicht zuletzt weil es dafür keine Anzeigenkunden mehr gibt und weil es sowieso als Öffentlichkeitsform nicht gerade auf dem Vormarsch ist.