Geträumtes Neolithikum

CLAUDE LÉVI-STRAUSS’ TRISTES TROPIQUES

Regine Strätling

Im Gepäck ein Grammophon reist ein Mann zu den Inseln Südamerikas. Bei seiner Ankunft spielt er eine Schallplatte ab, auf der in der Sprache der Eingeborenen eine lange Rede aufgenommen ist, die den Reisenden als neuen Gott vorstellt und von jedem als Opfergabe drei Kokosnüsse verlangt. Auf diese Weise gelingt es ihm, ungeheuren Reichtum anzuhäufen. Soweit der Entwurf zu einem Roman, der den Titel Tristes tropiques tragen soll. Mangel an Einbildungskraft und Geduld werden später als Gründe dafür genannt, warum der Autor, ein angehender Ethnologe, sein literarisches Projekt rasch verwirft. Es bleiben der Titel und der Romananfang, eine ausführliche Beschreibung eines Sonnenunterganges über dem tropischen Ozean.
Als Claude Lévi-Strauss, inzwischen ein anerkannter Wissenschaftler und namhafter Intellektueller, 1954 vom Verlag Plon eingeladen wird, in der neu gegründeten Reihe Terre humaine einen Bericht über seine Forschungsreisen zu veröffentlichen, erinnert er sich seines frühen Elaborats. Titel und Sonnenuntergangsbeschreibung finden nun doch Verwendung, gleichwohl für ein recht anders konzipiertes Buch. Der Autor betrachtet es weiterhin vorsichtig als einen Roman, aber der Handlungsfaden im Stile Conrads ist abgelöst durch eine Collage, eine der Logik der Variation folgende »Bastelei« aus Erinnerung, Ethnographie und ausgreifender philosophischer Reflexion, die ohne Zögern verschiedenste Genres zusammenstellt.
Bei seinem Erscheinen 1955 war Tristes tropiques sofortiger Erfolg beschieden. Das Buch kam zur rechten Zeit, um in dem in Bewegung gekommenen Entkolonialisierungsprozeß zu einer Art geistigen Rüstzeug zu werden. Unter den zahlreichen illustren Rezensenten fanden sich Georges Bataille, Raymond Aron, Maurice Blanchot ebenso wie der Freund Michel Leiris. In den Reaktionen spiegelten sich die Facetten des Werkes; je nach Fachrichtung des Rezensenten wurde es enthusiastisch als philosophisches, als poetisches Kunstwerk gelobt, mit Prousts Recherche verglichen. Susan Sontag, die 1963 die erste englische Ausgabe besprach, gab ein weiteres Stichwort, das bis heute die Rezeption prägt: Sie las das Buch vor allem als intellektuelle Autobiographie, eine Lesart, die starken Aufwind gewann durch die nachdrückliche und weiter zunehmende Hinwendung der Anthropologie zur Selbstreflexion seit den sechziger Jahren.
Gewiß gibt es Gründe, die für ein Verständnis des Buches als Autobiographie sprechen. So berichtet Lévi-Strauss nicht nur von den Expeditionen, die ihn zwischen 1935 und 1939 mehrfach zu den Indianerstämmen im Inneren Brasiliens und 1951 im Auftrag der UNESCO nach Pakistan, Indien und in das heutige Bangladesh führten. Er blickt auch auf seinen beruflichen Werdegang zurück, ausgehend von den frühen Prägungen, der Faszination des Kindes durch die Geologie, zu der sich später Marx’ politische und Freuds psychoanalytische Theorie gesellten. Alle drei hätten ihn, so der Autor, gelehrt, »daß verstehen heißt, einen Typus der Realität auf einen anderen zu reduzieren; daß die wahre Realität niemals diejenige ist, die sich am offenkundigsten zeigt« – ein Verhältnis von sinnlichem Schein und intelligibler Bedeutung, das er später zur Grundlage der strukturalen Analyse machte. Wir erfahren einiges über die weiteren Stationen seiner Laufbahn: Nach Studien des Rechts und der Philosophie fand er eine Anstellung als Gymnasiallehrer in der Provinz, ein für so viele Intellektuelle seiner Generation übliches Zwischenspiel, gab diese jedoch bereits nach einem Jahr auf, um dank einer ihm 1934 überraschend angebotenen Dozentur für Soziologie an der neu gegründeten Universität von São Paolo zur Ethnologie zu wechseln. Von dort aus unternahm er seine ersten (und einzigen) Feldforschungen zu den Indianern des Mato Grosso. Er erzählt ferner von der Änderung, die seine Laufbahn durch den zweiten Weltkrieg erfuhr, der ihn zur Flucht vor den Konzentrationslagern in die USA zwang, wo er – dies erwähnt er nicht – in wissenschaftlich-methodischer Hinsicht entscheidende Impulse nicht nur durch die Begegnung mit dem Linguisten Roman Jakobson, sondern auch durch die bereits während der Überfahrt geknüpfte dauerhafte Freundschaft mit André Breton erhielt. Schließlich, am Ende des Buches, reflektiert der Autor seine Situation als Ethnologe im Hinblick auf die eigene und die fremde Kultur.
Dennoch bleibt es unbefriedigend, Tristes tropiques vornehmlich als »intellektuelle Autobiographie« zu lesen. Ohnehin läßt sich bei Lévi-Strauss nur mit Vorsicht von Autobiographischem sprechen. Nicht, weil der Autor der historischen Zeit ein geringes Maß an Achtung entgegenbringt und er ihr formales Äquivalent, die lineare Retrospektion, nur sporadisch wählt, sondern wegen des Status’, den er dem Ich zugesteht. Von den klassischen, an das eigene Ich geknüpften Motivationen des Genres ist jedenfalls bei ihm nicht viel zu finden. Lévi-Strauss behauptet an anderer Stelle, er habe nie das Gefühl persönlicher Identität gehabt. Für das Ich prägt er die Metapher einer passiven Straßenkreuzung, auf der sich ganz Verschiedenes zufällig ereignet – ein Affront gegen das existentialistische Pathos des autonomen Selbstentwurfs, wie er heute in den »Technologien des Selbst« und den »Ästhetiken der Existenz« eine Neuauflage hat.
Wie polemisch oder aufrichtig Levi-Strauss’ eingestandene Vorliebe für eine indonesische Konzeption von Identität ist, die in jedem Körperteil eine Seele vermutet, eine Vielzahl von Seelen, die man hüten muß wie einen Sack Flöhe, möchte ich nicht entscheiden. Aber die Konzeption ist aufschlußreich für Tristes tropiques, weil sich hier das Ich weniger in den biographischen Peripetien denn als modulierende Stimme zeigt. Diese Stimme ist insofern die eines Ethnologen, und zwar des strukturalistischen Ethnologen, als sie im Absehen von Zeit und Ort auf das Gemeinsame zielt, das, was »sowohl die Geschichte der Welt wie meine eigene berührt« und damit deren gemeinsame Vernunft entschleiert. So ist auch Lévi-Strauss’ berühmtes Postulat zu verstehen, jede ethnologische Laufbahn finde ihr Prinzip in geschriebenen oder unausgesprochenen Bekenntnissen. Wenn Tristes tropiques ein Bekenntnis ist, dann nur in diesem speziellen Sinn. Auch Rousseau ist für Lévi-Strauss weniger der Begründer der modernen Autobiographie denn der Ethnologie. Rousseaus lebenslanges Fragen »Was bin ich?« gilt ihm nur eingeschränkt als Suche nach dem Individuellen, noch weniger liest er es als persönliche Konfession, sondern als das Bemühen um eine radikale Objektivierung der eigenen Identität. Rousseau ist für ihn kein Denker des cogito. Im Gegenteil, von Rousseau kann man lernen, daß sich das Ich nicht cartesianisch setzen läßt. Die Anderen sind dem Ich vorausgesetzt. Um zu sich selbst zu finden, muß man sich zuerst sich selbst verweigern. Die Erkenntnis des Eigensten führt über den Umweg des sehr entfernten Anderen – und umgekehrt. Wesentlicher für meine Bedenken aber ist, daß sich eine Lektüre des Buches als Autobiographie seinem alles beherrschenden, in Varianten und Oppositionen ausgeführten Thema entzieht, dem Nicht-Achten des anderen als Anderen. Vor diesem Hintergrund muß auch der große Mittelteil des Buches gelesen werden, den vier im engeren Sinne ethnologischen Kapiteln über die Expeditionen zu den Indianern des Mato Grosso – den Opfern dieses Mangels an Achtung.
Zum Zeitpunkt der Niederschrift lagen diese Reisen fünfzehn Jahre zurück, zwischen Vergangenheit und Rückblick ein tiefer Graben. Die Erzählung dieser einer anderen Zeit angehörenden Reisen entwickelt eine Logik, welche die Chronologie der Reisen respektiert, aber über sie hinausreicht. Während die Besuche bei den Caduveo- und der Bororo-Indianern in a posteriori verfertigten strukturalen Tableaus erstarren – indem die Physis auf eine unter ihr liegende Bedeutung bezogen wird –, scheitert der Anthropologe bei den Nambikwara und den Tupi-Kawahib in seiner Suche nach den unbewußten Konstanten des menschlichen Denkens: »Ich hatte eine auf ihren einfachsten Ausdruck reduzierte Gesellschaft gesucht. Die der Nambikwara war so einfach, daß ich in ihr nur Menschen fand.« Beide Gruppen liegen im toten Winkel der strukturalen Anthropologie. Liegt es daran, daß er mehr Zeit bei diesen beiden Völkern verbringt, daran, daß die Gruppen sehr klein sind, oder daran, daß ihre materielle Habe so dürftig und ihre soziale Struktur so einfach und ephemer ist – jedenfalls gewinnen sie im Buch eine lebendige Gegenwärtigkeit, die in den strengen Analysen der Caduveo und der Bororo keinen Platz hatte. Statt abstrakten Mustern begegnen dem Leser anmutige, fröhliche, einander zärtlich zugetane Menschen. Einer der schönsten Momente des Buches ist sicher die Schilderung der Mußestunden des Nambikwara-Häuptlings: Rücklings ausgestreckt heben er und seine Gefährtinnen, mit ihren Körpern im Sand einen Stern formend, ihre Füße in die Luft und berühren einander mit den Fußsohlen in einem gleichmäßigen Rhythmus. Das Glück ist diesseits der Struktur. Und doch sind die nackten, auf der bloßen Erde schlafenden Nambikwara für den Ethnologen mehr als nur Menschen, sie sind ihm zugleich Allegorien. Sein Blick verwandelt sie in Statthalter eines Goldenen Zeitalters: »Von ihnen allen geht eine große Freundlichkeit aus, eine tiefe Sorglosigkeit, eine naive und bezaubernde animalische Zufriedenheit und, alle diese Gefühle zusammenfassend, so etwas wie der rührendste und wahrhaftigste Ausdruck menschlicher Zärtlichkeit.« Die Momentaufnahmen ihres harmonischen Zusammenlebens sind ebenso der Zeit enthoben wie die abstrakten Strukturen, die Lévi-Strauss bei den Bororo und den Caduveo freilegte. Seine Darstellung verleiht ihnen Zeitlosigkeit, ohne je das Wissen um den entsetzlichen Niedergang preiszugeben, der die Indianervölker erfaßt hat. Von den dreißig Jahre zuvor auf 20.000 geschätzten Nambikwara waren bei Lévi-Strauss’ Besuch 1938 kaum mehr als 2.000 geblieben, von großen, mehrere hundert Mitglieder umfassenden Verbänden manchmal nur noch drei oder vier Menschen am Leben.
Während der Wissenschaftler mehr und mehr zurücktritt, spricht der von Anfang an gegenwärtige Gesellschaftskritiker mit wachsendem Nachdruck. Er variiert das Thema, wechselt vom Sterben der Indianervölker zu den trostlosen Lebensbedingungen der Bauarbeiter von Karachi und den Gefangenenlagern ähnelnden workers’ quarters in Narayanganj. Eine weitere, ungenannt bleibende Variante steht im Raum, die bei Abfassung des Buches kaum zehn Jahre zurückliegt. Einzig in der persönlichen Erinnerung an die Flucht vor den Nationalsozialisten wird die Shoah berührt – und zugleich relativiert und ihrer historischen und politischen Deutung beraubt in der Bemerkung, daß sich dem Ethnologen, der Zeuge des Sterbens der brasilianischen Indianer wurde, das, was seinen Mitreisenden auf dem Schiff eine noch nie dagewesene internationale Katastrophe erschien, als ein universelles und gesetzmäßiges, durch ungezügeltes demographisches Wachsen hervorgerufenes Phänomen darstelle.
Vor diesem düsteren Panorama hebt sich die einstige harmonische Welt der Indianervölker als unwiederbringlich verlorene glücklichere Alternative ab. Man hat Lévi-Strauss oft den Vorwurf gemacht, daß er, der doch die Ethnologie wie kein anderer von der für tendenziöse Anwandlungen anfälligen Beschreibung (und sei sie noch so dicht) gelöst hat, indem er kulturelle Formen auf quasi-grammatische Formeln reduziert, in Tristes tropiques der alten und wirkmächtigen französischen Tradition verhaftet bleibt und in den Fußstapfen von Montaigne, Rousseau und Diderot den Indianer zum Gegenbild der häßlichen Auswüchse der eigenen Kultur stilisiert. Die Auffassung vom Wilden ist der Schlüssel zum Werk eines Anthropologen, heißt es. Und Lévi-Strauss’ Auffassung ist eine eingestandene Sympathie.
Diese Sympathie ist spontan und reflektiert zugleich. Sie gründet auch in einer ästhetischen Freude an der Verschiedenheit der Formen. Lévi-Strauss benutzt, vielleicht nicht ganz korrekt, einen Begriff aus der Thermodynamik, den der Entropie, um die fortschreitende Auflösung distinkter Formen in einer globalen Uniformität zu benennen. Mit dem gleichen Begriff hatte zu Beginn des Jahrhunderts schon Victor Segalen in seinen Fragmenten einer Ästhetik des Diversen die nivellierende Tendenz beklagt, welche die vitalisierenden Reize der Differenzerfahrung zunehmend abschwächte. Ästhetisches Empfinden betrachtet Lévi-Straus nicht als der wissenschaftlichen Arbeit abträglich. Es ist für ihn integraler Teil der Beschäftigung mit dem Material. Sein ethnologischer Blick auf Kulturen ist der des Kunstliebhabers: Kulturen sind menschliche Schöpfungen, von denen jede einen Wert an sich darstellt und einige durch die Angemessenheit und Eleganz ihrer Lösungen besonders bestechen. Ihr Gesetz gibt dieser Ästhetik die Melancholie, die sich allem Vergehenden und Vernachlässigten verbunden fühlt.
Diese ästhetischen Kriterien gewinnen bei Lévi-Strauss eine moralische Dimension. Seine Parteinahme für die indianischen Kulturen begründet er mit der Angemessenheit ihrer Lösungen im Hinblick auf den Menschen und dem Gleichgewicht, das sie mit ihrer natürlichen Umgebung unterhalten. Sollen und können wir von ihnen lernen? Lévi-Strauss ist nicht der einzige Pessimist unter den französischen Ethnologen, aber er ist vermutlich der pessimistischste von allen. Dennoch entwirft er immer wieder Bilder einer zivilisatorischen Form, von der er zwar betont, daß sie weder ein Idealzustand ohne innere Schwierigkeiten ist noch etwas, das wir wieder zurückgewinnen könnten. Gleichwohl ist diese Gesellschaftsform utopischer Fluchtpunkt all seiner gegenwartskritischen Überlegungen. Er findet diese Form in den neolithischen Anfängen, einem Zustand, in dem der Mensch lebensnotwendige Kulturtechniken entwickelt hat (von denen Lévi-Strauss die Schrift ausnimmt), ohne in die Maßlosigkeit zu fallen, welche die abendländische Zivilisation kennzeichnet. Das Neolithikum ist Geschichtliches und zugleich Zeitloses, das wir in uns tragen – er selbst habe, so Levi-Strauss, einen neolithischen Verstand. Die Utopien des Melancholikers liegen stets in der Vergangenheit, er enträtselt sie in der eigenen Kindheit, oder, wenn er Anthropologe ist, in dem, was man die Kindheit der Menschheit nennt: »Wenn die Menschen seit jeher nur eine einzige Aufgabe in Angriff genommen haben, nämlich eine Gesellschaft zu schaffen, in der es sich leben läßt, dann sind die Kräfte, die unsere fernsten Vorfahren angespornt haben, auch in uns gegenwärtig. Nichts ist verspielt; wir können alles von vorn anfangen. Was getan wurde und gescheitert ist, kann noch einmal versucht werden: Das Goldene Zeitalter, das ein blinder Aberglaube vor (oder nach) uns ansetzte, ist in uns.«
Kaum formuliert, findet der Höhenflug sein Ende in bitterer Resignation: »...für uns Europäer und Landbewohner bedeutet das Abenteuer im Herzen der Neuen Welt zunächst, daß diese Welt nicht die unsrige war und das wir die Verantwortung für das Verbrechen tragen, sie zu zerstören; und zuletzt, daß es keine andere mehr geben wird. Durch diese Gegenüberstellung auf uns selbst zurückgeworfen, sollten wir zumindest lernen, sie in ihren ursprünglichen Begriffen auszudrücken – in den Begriffen eines Orts und im Hinblick auf eine Zeit, in der unsere Welt die ihr gebotene Chance, zwischen ihren Aufgaben wählen zu können, verspielt hat.« Die Passage verdichtet eine Bewegung des Schwankens, die das gesamte Buch durchzieht, ein Hin und Her zwischen den Relativierungen des Ethnologen, der in allen Gesellschaften nur Varianten immergleicher menschlicher Bemühungen sieht, deren Untersuchung die Möglichkeit für eine konstruktive Kritik der eigenen Gesellschaft öffnet, und dem melancholischem Heraufbeschwören eines vergangenen Paradieses, aus dem wir für immer verstoßen sind.
Die eben zitierten Zeilen stehen fast am Ende des Buches. Nach der Lektüre bleibt der Leser wehmütig zurück, einer ebenso esoterischen wie verlorenen Alternative nachtrauernd. Man kann sich dieser nostalgischen Stimmung überlassen und das Buch, das Lévi-Strauss bescheiden einen Roman nannte, in die Schatzkammer der Bibliothek, vielleicht neben Proust stellen, wie es ein Rezensent vorschlug. Aber ein Unbehagen stellt sich ein ähnlich dem, das man beim Lesen der Hiobsbotschaften von den Rändern unserer Zivilisation in der Tagespresse empfindet, ein diffuses Gefühl von Schuldbewußtsein und Hilflosigkeit. Dieses Unbehagen läßt ethische Reflexion und ästhetische Erfahrung nicht in Konflikt geraten, schmälert nicht die Hingabe an die Schönheiten des Buches. Doch zugleich macht Lévi-Strauss’ Gesellschaftskritik eine Haltung, ein Sich-Verhalten notwendig, das mit der kontemplativen Lektüre nicht abgegolten ist. Man mag Lévi-Strauss’ philosophische Reflexionen zurückweisen und sein Beschwören des Neolithikums als naive Träumerei abtun, man mag seine Ethnographie als Fiktion des Fremden entlarven, es führt doch kein Weg an der Einsicht vorbei, daß seine gesellschaftlichen Bestandsaufnahmen von ungebrochener Aktualität sind.
Das Traurigste an Tristes tropiques ist vielleicht, daß der ungeheure Erfolg des Buches seinen Protagonisten nicht geholfen hat. Zwar hat die Veröffentlichung des Buches an den Grundpfeilern des Rassismus gerüttelt, indem es eine Sicht auf die damals noch primitiv genannten Kulturen eröffnete, welche die postulierte zivilisatorische Hierarchie untergrub. Bei seinem Erscheinen hat es dazu beigetragen, ein neues Verhältnis des Anderen zu erschließen, das heute zumindest theoretisch unter den Lesern des Buches Konsens ist. Unverändert wirksam sind aber globale wirtschaftliche Verkettungen, die heute die gleichen Opfer wie damals fordern. Es scheint wesentlich leichter zu sein, Lévi-Strauss’ Forderung nach der Achtung des anderen als Anderen nachzukommen, als das eigene Konsumverhalten zu ändern, ein Verhalten, das unvermindert zur Vernichtung dessen beträgt, was wir »Die Tropen« nennen.
Was die gesellschaftliche Rolle des Ethnologen betrifft, so hat Lévi-Strauss sie in einem der letzten Kapitel des Buches bestimmt, jenem Kapitel mit dem anheimelnden Titel »Ein kleines Glas Rum«. Seine Aufgabe besteht darin, Material für den Vergleich der Kulturen zu sammeln. Erst dieser Vergleich kann zeigen, welche Formen und welches Maß an Ungerechtigkeit und Gewalt der menschlichen Gesellschaft inhärent sind. Auf der Grundlage dieses Vergleichs können der gegenwärtige Zustand der eigenen Gesellschaft beurteilt und Reformen entworfen werden. Dem Ethnologen, dem Wissenschaftler obliegt es, durch unspektakuläre, beharrliche Forschung fachliche Ergebnisse bereitzustellen, die dazu beitragen, angemessenere Lösungen zu finden.
Dieser Rückzug ins Fachliche läßt Lévi-Strauss im Vergleich zum Aktivismus des engagierten Intellektuellen unpolitisch erscheinen. Freilich ist seine politische Abstinenz, wie allein Tristes tropiques zeigt, weniger absolut, als Lévi-Strauss’ Selbsteinschätzung glauben machen möchte. Doch seine Haltung bleibt im ’intellektuellen Feld’ der Zeit singulär: Als die pessimistischen Tristes tropiques erscheinen, sind Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Michel Leiris und Chris Marker dabei, nach China aufzubrechen, um die Errungenschaften des Kommunismus in Augenschein zu nehmen. Und anstatt wie Sartre und Foucault mit den Studenten des Mai 68 zu marschieren, betrachtet Lévi-Strauss die Ereignisse distanziert als Ethnologe. Seine gesellschaftliche Einmischung in diesem Jahr 1968 besteht vor allem in einem – gleichwohl ohne Hoffnung auf ein Ergebnis – an den brasilianischen Präsidenten gesandten Brief, in dem er gegen neue Massaker an den Indianern protestiert.
Zweifellos bedarf es zu dieser Haltung keiner strukturalen Analyse der Heiratsregeln der Bororo. Doch die fachliche Seriosität, welche die streng ethnologischen Kapitel in Tristes tropiques belegen, gibt auch seinen allgemeinsten und gewagtesten Spekulationen Kredit. Ebensowenig beruht die Mahnung, die Lévi-Strauss am Ende des Buches im Hinblick auf die westliche Zivilisation formuliert, kaum auf dem akribischen Vergleich kultureller Strukturen. Aber sie erschiene auf fatale Weise banal, gäbe ihr Lévi-Strauss’ Autorität als Wissenschaftler im Verein mit der poetischen Schlichtheit seiner Formulierung nicht die Nachdrücklichkeit, die uns, den Lesern, eine Verantwortung auferlegt: »Kulturell enteignet und der Werte beraubt, denen wir uns verbunden fühlten – Reinheit von Wasser und Luft, Wohltaten der Natur, Vielzahl und Verschiedenheit der Tier- und Pflanzenarten – sind wir, fortan allesamt Indianer, im Begriff, uns selbst zu dem zu machen, was wir aus ihnen gemacht haben.«
So bleibt Tristes tropiques eine Variation des fiktionalen Vorgängers, der Allegorie auf die abendländische Ausbeutung der Tropen in der Gestalt des trickreichen Kokosnußhändlers, die mit einer Hymne an die Schönheit der Natur in den ephemeren Architekturen eines Sonnenuntergangs einsetzte. Die Entstehungsgeschichte des Buches illustriert Lévi-Strauss’ anthropologische These von der Kraft der Anfänge, in Bezug auf die alle späteren Formen nur Reformulierungen sind. Ist nicht aber der Umstand, daß Lévi-Strauss einen Sonnenuntergang und nicht den Beginn des Tages beschreibt, als Hinweis darauf zu verstehen, daß uns die Erscheinungen nie so schön vorkommen wie im Augenblick ihres Verschwindens?