Elite oder Avantgarde
Cord Riechelmann
Der einzig erkennbare Fortschritt in der Geschichte der Menschheit liegt immer nur in der kompromißlosen Verteidigung der Schwächeren. Michel Serres
Der alte Avantgardebegriff stand immer in Beziehung zu den Massen oder dem Volk. Jede Bewegung oder jedes noch so kleine Grüppchen, seien es Künstler, Wissenschaftler oder politische Aktivisten, das sich in der Moderne unter der Avantgardemetapher versammelte, sah sich im Dienst des Volkes oder der Massen agieren. Das Versprechen lautete: Wir können es schaffen, die Massen mitzureißen. Kafkas Wort von der Literatur, die eine Angelegenheit des Volkes sei, steht in diesem Zusammenhang. In einer seiner zu diesem Thema zentralen Erzählungen, den Forschungen eines Hundes, sucht der Hund denn auch nach einer »anderen Wissenschaft«. Der Hund, einsam, am Rande oder außerhalb der gegebenen Hundheit stehend, versucht eine mögliche andere Gemeinschaft zu denken. Die Einsamkeit des denkenden Hundes gerät dabei nicht in Widerspruch zur aktiven Solidarität mit dem wirklichen Geschehen in der Hundheit.
Einsamkeit und kollektive Aussagen, also die Intention, den Text im Namen aller Hunde zu schreiben und an alle Hunde zu adressieren, schließen einander bei Kafka nicht aus. Der individualisierte Hund mag noch so allein sein; von seinen vorindividuellen, allen Hunden gemeinsamen Erfahrungen ist er nicht abgeschnitten. Auf seine Weise ist er das »gesellschaftliche Individuum«, von dem Karl Marx in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie gesprochen hat. Für die Avantgardekonzeption, heißt dies, ist noch der Prozeß der Individuation Ausdruck des Gleichheitsprinzips aller Menschen. Individuum wird man in diesem Fall nur in der Hundheit, in der Auseinandersetzung mit anderen Hunden. Nur unter allen Hunden läßt sich eine »andere Wissenschaft« entfalten, deren Wissen sich an alle richtet.
Dagegen arbeitet der Begriff der Elite mit der Vorstellung einer permanenten Stratifikation, die prinzipiell nicht aufgehoben werden kann. Die Kluft, die den Weisen vom gewöhnlichen Menschen trennt, ist nach der Elitekonzeption des Wissens eine Grundtatsache der menschlichen Natur, die von keinem Fortschritt der Volksbildung beeinflußt werden kann. Philosophie und Wissenschaft sind ihrem Wesen nach ein Privileg weniger.1 Dies ist eine sehr alte Konzeption von Wissenschaft und Philosophie; der Religionsphilosoph Jacob Taubes brachte sie 1982 in einem Gespräch mit der Zeitschrift »Tumult« auf folgende Formel: »Der klassische Philosophiebegriff – wobei die Unterschiede hier zwischen Plato und Aristoteles und Thomas wegfallen und vielleicht sogar der Anfang der Neuzeit vernachlässigt werden darf – der klassische Philosophiebegriff impliziert die These: Der Weg zur Wahrheit ist schwer, diffizil, und nur wenige können ihn gehen, aber immer gehen.«2
Der Zeitpunkt des Gesprächs in »Tumult« – die Zeitschrift für Verkehrswissenschaft hatte ihre Nummer unter den Titel »Schulen der Eliten« gestellt – kam dabei nicht von ungefähr. Anfang der 80er Jahre erlebte das durch die Kritik der Studentenrevolte an der Kontinuität der deutschen Eliten von 1933 bis 1968 suspekt gewordene Elitekonzept eine zumindest kritischen Intellektuellen wie Taubes unheimliche Renaissance. In West-Berlin war das Wissenschaftskolleg gerade eröffnet worden. Sein Gründungsdirektor, der Altgermanist Peter Wapnewski, hatte in den Texten zur Formierung des Kollegs eine, laut Taubes, »heroisierende Ansicht von Wissenschaft« vertreten. Der Heros aber, ein Wesen, das halb Gott, halb Mensch ist, gehört als Parodie oder Ernstfall zu jeder Elitekonzeption.
Dabei erwies sich die Figur der Halbgötter als merkwürdig kritik- und parodieresistent. Als Rainer Werner Fassbinder eine moderne Farce auf das Leben und den Kult des Dichters Stefan George 1976 in seinem Film Satansbraten vorführte, war der Halbgott schnell entlarvt. Die Jünger des Dichters, denen der Gott in griechischen Gewändern als schöner junger Mann vorgeführt wurde, kannten den Jungen bereits: als Stricher vom Bahnhof. Ganz unberührt davon erschien bei Wapnewski die Elite nur ein paar Jahre später wieder in altem unbefleckten Glanz. Es ginge im Wissenschaftskolleg darum, Angehörige einer Forscherelite zu versammeln, die mit »Stil ... mit Geschmack und souveräner Lebensführung in anderen den unbezähmbaren Wunsch erwecken, ähnlich zu sein wie sie«, hatte Wapnewski programmatisch formuliert.
Ohne hier auf das Wissenschaftskolleg im Besonderen eingehen zu wollen, kann man Wapnewskis Worte als Anfang vom Ende der Reformbewegung der deutschen Gesellschaft lesen. Reform der Gesellschaft bedeutete in Deutschland seit dem Zeitalter der französischen Revolution immer zuerst die Reform der höheren Bildungsanstalten. Die Humboldtsche Universitätsreform zu Beginn des 19. Jahrhunderts, mit der Gründung der Berliner Universität in Szene gesetzt, war auf deutschem Boden »das einzige, was von der Reform der Gesellschaft im Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Zeitalter sich verwirklichen ließ«.3 Was man in Deutschland nicht tun kann, die Revolution nämlich, das gibt man sich zu denken auf.
Kant und Hegel hören nicht auf, die französische Revolution zu denken. Dabei erhält die Revolution als Begriff und Ereignis eine selbstbezügliche Dimension, die bei Kant zu einem »Enthusiasmus« der Teilnahme führt.4 Der wahre Enthusiasmus zielt dabei immer auf das »Idealische«, keinesfalls auf den Eigennutz. Wichtig an der Revolution ist für Kant nicht die Revolution selbst, sondern das, was das Ereignis der Revolution in den Köpfen derer auslöst, welche die Revolution nicht unbedingt machen oder an ihr beteiligt sind. Die Begeisterung für die Revolution ist von Bedeutung in dem Sinne, daß sie sich von den Sachverhalten oder dem Erleben löst: Sie ist nicht einmal mehr durch Enttäuschungen der Vernunft zu schmälern. Ihr Ziel ist ein irgendwann zu erreichender Zustand, in dem sich die Menschen die Verfassung geben, die sie wollen und die den Krieg, »der Quell aller Übel«, unmöglich macht. Der Enthusiasmus für die Teilnahme an der Revolution kann dabei alle Menschen zu allen Zeiten erfassen.
Mit dieser Version der Selbst-Setzung des Menschen, unabhängig von den notwendig beschränkten aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten, beginnt das große Versprechen der deutschen Wissenschaft im 19. Jahrhundert, das der Grund der Weltwirksamkeit der Humboldtschen Universitätsreformen ist. Die Universitätsreform ist der erste Ausdruck eines gewandelten Philosophie- und Wahrheitsbegriffs, der ohne Eliteversion auskommt. Taubes sagt es so: »Mit Hegel beginnt ein neuer Begriff der Philosophie: Der Weg zur Wahrheit ist schwer – Arbeit des Begriffs ist Arbeit! – aber am Ende können alle daran teilnehmen.«5
Die esoterische Version der Wahrheit, die nur wenigen zugänglich ist und die, wie die Kunst, tief vor der Menge verborgen, als Geheimwissenschaft in den Höhlen Griechenlands oder Südfrankreichs begann, ist aufgehoben im Anspruch: für alle. Handgreiflich wird dieser Umbruch in den Reden und Vorlesungen, die Johann Gottlieb Fichte als erster gewählter Direktor der Berliner Universität um das Jahr 1811 hält. Die Freiheit an der Universität unterscheidet sie von der niederen Schule, das Verhältnis von Student und Lehrer ist ein dialogisches, im sokratischen Sinne kritisch fragendes. Es fällt »zwar nicht die Erziehung, aber der äußere Erzieher weg, indes bloß der Lehrer bleibt und der Studierende angesetzt wird als sein eigener Erzieher, der von nun an gerade dasjenige, was auf der niedern Schule der Lehrer ihm leistete, zweckmäßige Leitung seiner Geistesentwicklung und Entfernung von der Berührung mit dem Bösen, sich selber zu leisten hat«, heißt es in Fichtes Vorlesungen über den Gelehrten von 1811.6
Das Versprechen, das von der Humboldtschen Universität in die Welt ging, nämlich Lehr- und Lernfreiheit nicht nur zu gewährleisten, sondern zu leben, wird von Fichte immer wieder in den gesellschaftlichen Zusammenhang gesetzt. An der Universität wird durch die in ihr wirkende Freiheit die neue Gesellschaft geboren. Die Berliner Universität war die deutsche Variante der französischen Revolution, und als solche ist sie bis heute ideell wirksam. Als der französische Wissenschaftsphilosoph Michel Serres Ende Juli dieses Jahres sich für einige Tage in Berlin aufhielt, antwortete er auf die Frage, wie man dem neuen Elitismus in Wissenschaft und Politik begegnen sollte, mit der Formel: »Verteidigen Sie die Humboldtsche Universitätsidee!«
Für Serres hatte dabei die deutsche Universitätsidee den gleichen selbstbezüglichen Ereignischarakter angenommen wie für Kant die französische Revolution. Es ging ihm nicht darum, die Idee mit der Aktualität der jetzigen Universitäten abzugleichen. »Wenn der Besitz eines bestimmten Wissens oder das Zurückhalten einer Information Ihnen eine gewisse Macht verleiht, sollten Sie diesen Anflug von Gewalt rasch auf den Müll werfen, denn Wahrheit entsteht nur jenseits der Gewalt«.7 Sein Atlas kann wie ein Gegenentwurf zur aktuellen Entwicklung der deutschen Universitäten gelesen werden. Mit ihren verschulten Bachelor- und Masterstudiengängen sowie den angeschlossenen Exzellenzinitiativen stehen sie für den ersten gelungenen Angriff auf die egalitäre Konzeption der Humboldtschen Universität hierzulande.
Die allgegenwärtige Forderung an den Universitäten, nur noch die Besten auszubilden, sie zu Stätten der Elitebildung zu machen und die Ausbildung in ein flaches Angebot für die Vielen und ein Spitzenfördersystem für die ganz Wenigen aufzutrennen, ist für Serres nichts anderes als ein Rückfall in der Zeit. Ein Rückfall in die alte stratifizierende Weisheitsidee der Griechen. Serres spricht in diesem Zusammenhang vom Polytheismus der Reichen. Wie Taubes auch sieht er im Rückbezug auf das platonisch griechische Wahrheitsideal nichts als Barbarei. Wer heute ein Lob des Polytheismus singt, wie es der Philosoph Odo Marquardt und der Verleger Jörg Schröder tun, oder wer, wie der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler, die Wirklichkeit der griechischen Götter wiederbeleben will, verschweigt oder leugnet die Kosten des griechischen Heidentums: Die Stratifikation der Menschen in unten und oben, in Freie und Unfreie, letztlich in Bürger und Sklaven.
Für Serres aber gibt es »ohne Teilen keine Bildung, denn sonst setzt das Wissen nur die Macht, die Wissenschaft nur die Gewalt fort, indem sie den tierischen Charakter der Hierachie mit ähnlichen Mitteln wie die Macht verlängert«.8 Das heißt: Keine Wissenschaft ohne Gleichheitszeichen – keine Erkenntnis ohne Invarianz. Für den Lehrer, sei er Philosoph oder Wissenschaftler, folgt daraus, daß er sein Wissen nicht nur mit den Schülern, sondern mit allen teilen soll. Für Serres wird in diesem Zusammenhang auch die Avantgardekonzeption wieder relevant. Die Avantgarde seiner Bildungsidee findet er im Internet und die Wissenschaft auf der Höhe der Zeit bei Wikipedia. Das ist eine deutliche Ausdehnung der Humboldtschen Idee über den Raum der alten Universität hinaus. Während Taubes noch stolz darauf war, Generationen von Taxifahrern im Zuge der Universitätsöffnung der 1970er Jahre ausgebildet zu haben, hat für Serres die Wahrheitsprozedur die Seminarräume schon verlassen, wenn sie diesen Namen verdient.
Er selbst setzte diesen Prozeß während einer Bootsfahrt auf der Havel in Berlin in einen Dreiklang. Die Wissenschaft der Griechen war Geheimwissenschaft, die Wissenschaft des Mittelalters bestand in der Codierung des Wissens; wer den Code besaß, der konnte an diesem Wissen teilhaben, und heute leben wir in der Zeit einer Vulgarisierung des Wissens: es wird über alle Grenzen hinaus, gleich ob es geographische oder soziale sind, zugänglich und vermittelbar. Vulgarisierung ist in diesem Zusammenhang bei Serres ein positiver Begriff. Das heißt nicht, daß es nicht auch weiterhin Projekte geben wird, an denen nur wenige arbeiten; es geht ihm um die Intentionalität der am Wissen Arbeitenden. Erst wenn die Wenigen im Auge behalten, daß Wahrheit nur dann Wahrheit ist, wenn sie für alle ist, dann arbeiten sie am Projekt der Wahrheit, die immer ein Projekt des Friedens und der Gleichheit ist. Das ist ein Projekt, das die Wahrheit immer auf der Straße sucht oder auf die Straße trägt. Wie Sokrates auf dem Marktplatz von Athen, wie Paulus in den Briefen an die Gemeinden von Rom oder Korinth, wie Nikolaus von Kues’ Idiot oder Kants Enthusiasmus für die Revolution.
Es ist ein Programm, das insofern immer der Avantgardeidee verpflichtet bleibt, als die Adresse die Vielen, die Menge, eben alle sind; ein Programm, das aber in der Geschichte immer wieder auch leicht in eine Elitekonfiguration umschlagen konnte. In gewisser Weise sind ja auch die Eliteprediger und Züchter der Besten von heute, wie Thilo Sarrazin und Peter Sloterdijk, Kinder der französischen Revolution und der Humboldtschen Reformen. Man kann zugespitzt sogar sagen, daß ihre Elitezüchtungsphantasien erst durch die moderne, in der Zeit der französischen Revolution entstandene Biologie befeuert wurden. Züchtung wurde mit dem von der Oberfläche der Körper nach innen wandernden Blick der modernen Biologie auf eine Weise rationalisiert, daß es möglich zu sein schien, Menschen nach einem vom Menschen gemachten Vorbild zu schaffen.
Die aktuelle Formation der neuen Eliten scheint dabei seine Vorbilder zumindest phänomenologisch in einem sehr alten Katalog gesucht zu haben. So werden zum ersten Mal seit Bestehen der Bundesrepublik drei Schlüsselministerien im Kabinett von Adeligen besetzt: Thomas de Maizière ist Innenminister, Karl-Theodor zu Guttenberg für die Kriege zuständig, und Ursula von der Leyen steht dem Arbeitsministerium vor. Interessant war am neuen Aufstieg des Adels vor allem die Deckungsgleichheit der medialen Lobeshymnen insbesondere auf zu Guttenberg mit den Idealen Wapnewskis im Wissenschaftszusammenhang. Guttenberg prädestinierte zumindest am Beginn seiner Ministerkarriere vor anderen sein Stil, der bei ihm natürlich mit einer souveränen, ihm wie anderen Adeligen offenbar in die Wiege gelegten Lebensführung korrespondierte. Die Lebensführung mit seiner natürlich attraktiven und adeligen Frau war wichtiger als seine eventuelle Qualifikation, beziehungsweise: sie war die Qualifikation. Ein Moment des neuen Elitismus, das Gottfried Graf Bismarck einmal auf folgenden Punkt brachte: Angesprochen auf seinen eher laxen Umgang mit dem Lernstoff an seiner englischen Eliteuniversität, nennen wir sie Oxbridge, antwortete der Graf sehr gelassen, das Noten ihm nicht so wichtig seien, wenn er sich irgendwo bewerben würde, würden die Leute seinen Namen lesen und ihn daraufhin einstellen. Noten sind in diesem System nur Schall und Rauch, Namen aber Donner und Feuer, bestimmte jedenfalls – eine Angewohnheit, die man mittlerweile überall beobachten kann.9
Das Geheimnis des Adels sei die Zoologie, hat Karl Marx dazu 1844 in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie angemerkt; einer Zoologie, von der Darwin ein paar Jahre später, 1856, schreiben wird, daß sie »rein theologisch« sei.10 Theologisch war die Zoologie für Darwin bis dahin, weil für sie jede einzelne Tatsache immer mit einem Naturgesetz verknüpft war; ein Gesetz, das die hierarchische Ordnung der Lebewesen in die Entwicklungsleiter der Arten eintrug und oben und unten auch in der Natur wiederfand. Für Darwin gab es aber keine Arten mehr, der Artbegriff war ihm zur bloßen Abstraktion geworden, und auch kein Naturgesetz, das den Entwicklungsgang der Lebewesen berechenbar regelte. Also, kann man Darwin fortführen, kann es auch in einer Population keine als Quasinaturgesetz wirkende Stratifikation geben, welche die wenigen Weisen oder sonstwie Begabten von der Menge trennt. Für Darwin herrschte in den natürlichen Populationen offene Konkurrenz zwischen allen Individuen der Population. Und der wesentliche Motor der Veränderung und Entwicklung ist der Zufall, nicht der Stammbaum. Das heißt, daß die Behauptung einer unhintergehbaren Stratifikation zwischen wenigen Begabten, heute auch Leistungsträger genannt, und dem ganzen blöden Rest, der gefälligst zu kuschen habe und sich zu fügen, oder, wenn er nach oben will, die oben sind, nachzuahmen habe, wie es Wapnewski für seine Forscherelite forderte, schon von der Darwinschen Biologie nicht mehr getragen wird. Der immer auch aristokratisch agierende Elitismus der Zeit ist deshalb ebenso ein Konstrukt oder Konzept wie die Avantgardekonzeption einer zukünftigen Gesellschaft in Gleichheit und Frieden.
Daß sich der Elitismus ungeniert biologischer oder naturhafter Metaphern bedient, hat seinen Grund nicht in der Natur, sondern in einem alten Trick, die gesellschaftlich hergestellten und gewalttätig aufrechterhaltenen Stratifikationen zu legitimieren. Ob dies durch die Götter oder die Natur geschieht, ist dabei bloß eine Frage der Konjunktur; mit Sicherheit übel wird es aber dann, wenn Natur- und Gottesvorstellungen sich in einer »Theozoologie« vereinen. Der Begriff wurde von Jörg Lanz von Liebenfels in seinem Buch Die Theozoologie oder die Kunde von den Sodoms-Äfflingen und dem Götter-Elektron, erschienen 1905, geprägt. Das Buch selbst ist eine krude Pseudo-Religions-Geschichtsdeutung, die alle Arier aus den guten Engeln der Bibel hervorgehen läßt und alle Nichtarier aus einem domestizierten Zweig der biblischen Welt zwischen der sündigen Eva und irgendwelchen Sexapparaturen, mit denen die Engel sich einst vergnügten. Das Ganze ist ein himmelschreiender Quatsch, der aber, weil Lanz einer der Vordenker der Nazis war, bei Hitler seine grausame Entfaltung fand. Es war die Mischung aus biologistischer Eugenik und einer esoterischen Sektentheologie, die bei den Nazis bis in die höchsten Höhen der damaligen Naturwissenschaft auf fruchtbaren Boden fiel. Natürlich kommt im System jeder Theozoologie die Gleichheit nicht vor, Theozoologie ist immer ein Ausschluß- und Diskriminierungsprogramm.
Allerdings, und das bleibt eine ewige Schwierigkeit jeder Avantgardekonzeption, ist Gleichheit ebensowenig eine Gegebenheit individualisierter Gemeinschaften. Individuen sind naturgemäß ungleich. Gleichheit muß immer hergestellt werden: sie ist, so paradox dies klingt, das am wenigstens Gemeinsame. Um Gleichheit zu denken, muß man vom individuellen Subjekt des Denkens Abschied nehmen und den Gedanken des kollektiven Subjekts oder des gesellschaftlichen Individuums in Angriff nehmen. Sokrates hat es einmal versucht, indem er einem aufstiegsorientierten, machtgierigen und konkurrenten jungen Mann, Kallikles, darauf hinwies, daß »die geometrische Gleichheit unter Göttern und Menschen so viel vermag«; er, der selbstgefällige Karrierist, aber glaube, es komme nur auf das Mehrhaben an, was seine Ursache darin habe, daß er die Meßkunst vernachlässige. Die Korrespondenz von Geometrie und Gleichheit gegen das Streben nach dem Mehrbesitz zu verteidigen, bleibt auch nach zweitausend Jahren die Aufgabe, und eingeschrieben ist sie in die Geschichte der Avantgarden, nicht in die der Eliten.