Die Räume
Johan Frederik Hartle
Architecturally, to define space (to make space distinct) literally meant to ›determine boundaries‹.
Bernard Tschumi1
Gebauter Raum
»In dem außerordentlich reichen Vokabular der Theoretiker des französischen Klassizismus kam espace«, wie der Architekturtheoretiker Akos Moravánsky schreibt, »überhaupt nicht vor.«2 Und auch die »Architekten und Architekturhistoriker des neunzehnten Jahrhunderts schienen [...] gut ohne diesen Begriff auszukommen«. Das theoretische Bedürfnis nach ›Raum‹ hat eine vergleichsweise kurze Geschichte. ›Raum‹ tritt zunehmend erst ins Bewußtsein der Architektur- und Kunsttheorie.
Mit der architekturtheoretischen Thematisierung von ›Raum‹ ist eine Vorentscheidung gegenüber Fassade, Material und Ornament getroffen. Architektur erscheint mit ihr als Gestaltung von Lebens- und Bewegungsräumen und nicht nur entweder als Ingenieurwesen oder als bildend-dekorative Kunst. Auf diesem Weg tritt ›Raum‹ durch die Herausforderungen seiner baulichen Gestaltung als konzeptuelles Problem hervor. Und so steht auch die (akademische) Architekturtheorie im Zentrum des Raumdiskurses. Sie geht jedoch Bündnisse ein, verknüpft sich mit Philosophie und Soziologie.
In der Geschichte der Raumtheorie erfolgt eine Annäherung an ein Konzept symbolisch gehaltvoller Raumstrukturen in mehreren Reflexionsstufen. Die erste Dimension des architektonischen Raumes ist die leibliche Dimension seiner Wahrnehmung. Diesen Anspruch an die Raumtheorie formulieren zunächst Wölfflin, Hildebrand und Schmarsow, später die phänomenologische Tradition. Sie geben den Hinweis auf die Synästhesie der Raumerfahrung, auf ihre taktile und kinästhetische Dimension, durch die ›Raum‹ eben nicht bloß als äußeres Objekt erfahren wird. Aufgrund unserer leiblichen Situierung im Raum, so war die These, die sich seit Wölfflin in zunehmender Komplexität mit dem gebauten Raum verbindet, nehmen wir jenen (quasi) unmittelbar wahr, indem wir uns bewegen und dabei selbst immer schon räumlich verfaßt sind.
In der Fortschreibung des leiblichen Raumprogramms durch Waldenfels, in den alternativen Pointierungen durch Giedion und Lefebvre wird gegen die Ontologie der Leiblichkeit deutlich, daß die leiblich-räumliche Unmittelbarkeit einer grundlegenden Vermittlungsstruktur ausgesetzt ist. Diese Vermittlungsstruktur ist in dem semiologischen Argument, daß ›Leib‹ und ›Raum‹ erst durch zahlreiche symbolische Vermittlungen hindurch thematisch werden, daß sie also erst als symbolisch Gehaltvolle in das Feld des Denkbaren eintreten, enthalten. Die Kritik der ontologischen Raumtheorie kommt in einer räumlichen Dialektik auf den Begriff. Sie ist die systematische Antwort auf Aporien der Unmittelbarkeit und des Essentialismus, die sich zwischen der semiotischen und einer leiblich-transzendentalen Raumtheorie eröffnen.
Damit ist bereits die zweite Dimension des architektonischen Raumes angesprochen, welche die Tradition des Raumdenkens zu denken aufgibt: Gebauter Raum ist Raum zahlreicher Bedeutungen, der vermittels seiner bloßen Form (nicht erst im Funktionalismus) konkrete gesellschaftliche Funktionen übernimmt. Damit wird, außer der Feststellung, daß räumlichen Formen bestimmte (leiblich angeeignete) Bedeutungen zukommen können, auch das Wie räumlichen Bedeutens thematisch. Die symbolischen Dimensionen des gebauten, dreidimensionalen Raumes in seiner materiellen Verdichtung werden erst umfassend denkbar in einer theoretischen Synthese aus leibbezogener Raumtheorie und sozial reflektierter Architekturtheorie. In der Entwicklung eines solchen Raumdenkens spiegeln sich reale, sozioökonomische und baugeschichtliche Herausforderungen, auf die das Denken des gestalteten Raumes reagiert.
Bei der Fokussierung des Raumbegriffs als einem kunst- und architekturphilosophischen Konzept steht die wahrnehmungstheoretische Fokussierung der Kinästhetik des Raumes somit am Anfang. Die Symbolsprache räumlicher Gefüge und die sozialen Direktiven, die sich darin Ausdruck verschaffen, werden dabei zunächst nicht ausdrücklich thematisiert. Erst im avantgardistischen Architekturdiskurs kommen die sozialen Dimensionen gebauter Raumformen zum Tragen. Dort wird ›Raum‹ etwa im paradigmatischen ›freien Raumplan‹ zum Medium einer Bewegung, das tradierte Formen verflüssigt. Der avantgardistische Architekturdiskurs geht damit vom äußeren, sozial codierten Raum aus, wie er im leibbezogenen Raumdiskurs als sekundär gedacht wurde. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts kommen im urbanistischen Diskurs philosophische Konzepte von ›Raum‹ zum Tragen, die sowohl seine leibliche als auch soziale Konkretion zu denken in der Lage sind. ‚Raum‘ wird darin als gebauter Raum der sozialen Praxis und als Verdichtung sozialen Sinns erkennbar. Bis dahin hat das symbolische Raumkonzept zwischen den Disziplinen – Architekturtheorie, Ästhetik, Phänomenologie der Leiblichkeit, Sozialphilosophie und Raumsoziologie – bereits einen langen und widersprüchlichen Weg zurückgelegt, dessen Nachvollzug auch die vielfältigen Dimensionen von gebautem Raum verdeutlichen mag. Durch die Tradition des Funktionalismus und die gesellschaftstheoretische Raumphilosophie Henri Lefebvres werden die äußeren Funktionen und sozialen Bedeutungsschichten von ›Raum‹, die seine Erfahrung strukturieren, explizit hervorgekehrt. Der architektonische Raum geht dabei mit anderen Bedeutungsstrukturen historische Bündnisse ein und wird als Bestandteil einer symbolischen Form oder eines Paradigmas deutbar. Er ist historisch bestimmter Raum, somit Raum bestimmter gesellschaftlicher Konstellationen, die sich ihrerseits in ihm konkretisieren.
Daß sich die Gestaltung von belebten und genutzten Räumen vorderhand nicht mit dem Anspruch verträgt, den die negative Bewegung der Kunst aufrichtet, liegt auf der Hand. Selbstverständlich vermögen Zweckbauten und Nutzformen nicht einfach qua Form die sozialen Fremdansprüche zurückzuweisen. Dennoch kommt in der (Theorie-)Geschichte der räumlichen Gestaltung und im zunehmenden Zusammenspiel von Architektur und Plastik, ein Moment zum Tragen, das es erlaubt, Bewegungsräume vor dem Hintergrund einer reflexiven ästhetischen Bewegung zu thematisieren, die hier als Negativität gekennzeichnet wird. Denn mit Räumen werden, im Zuge einer räumlichen Dialektik, immer auch Bedeutungen materialisiert (d.h. errichtet und repräsentiert), die gerade durch diese kontingente Bewegung der Gründung auch und gerade in ihrer Abgründigkeit erscheinen. Manifester Sinn öffnet sich in der räumlichen Gestaltung einer unbestimmten Vielfalt von Praxen. Gerade das zeigt die Geste einer Dynamisierung an, durch die verschiedene architektonische und skulpturale Strategien seit der architektonischen Avantgarde miteinander verbunden sind.
Propädeutik der Raumwahrnehmung
Der Begriff des Raumes erhält seine erste kunst- und architekturtheoretische Konkretion in kunstwissenschaftlichen Debatten am Ende des 19. Jahrhunderts. Mit dem Schweizer Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin und seinen Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur aus dem Jahr 1886 entsteht eine erste Grundlegung des architektonischen Urteils, in welcher der Begriff des Raumes eine wichtige Rolle spielt. Architekturästhetik wird in den Kontext einer Psychologie der Raumwahrnehmung gerückt. Die synästhetische Wahrnehmung des Raumes sowie einige erste Prinzipien seiner Gestaltung treten darin hervor.
Wölfflin entwickelt eine anthropomorphe Lesart der Architektur, die auf die primären Ordnungsprinzipien räumlich-baulicher Gestaltung im Horizont ihrer ›Gestimmtheit‹ eingeht. »Körperliche Formen können charakteristisch sein nur dadurch, daß wir selbst einen Körper besitzen. Wären wir bloß optisch auffassende Wesen, so müßte uns eine ästhetische Beurteilung der Körperwelt stets versagt bleiben. Als Menschen aber mit einem Leibe, der uns kennen lehrt, was Schwere, Kontraktion, Kraft usw. ist, sammeln wir an uns die Erfahrungen, die uns erst die Zustände fremder Gestalten mitzuempfinden befähigen.«3
Raumerfahrung ist für Wölfflin somit physische Erfahrung in einem mehrdeutigen Sinn. Im Medium unserer je eigenen phýsis erfahren wir räumliche Objekte als uns verwandt. Die Erfahrung physischer Kräfte am eigenen Leib wird so als Bedingung der Erfahrung äußerer körperlicher Objekte gedacht. Doch Wölfflins Analogien von Subjekt und Objekt der ästhetischen Erfahrung gehen noch einen Schritt weiter. Ihm zufolge ist es das Bild »unserer selbst«, das »wir allen Erscheinungen« unterschieben.4 Und so wie wir Gestimmtheit und Bedeutung an körperlichen Gebärden erfassen, so seien eben auch Gebäudestrukturen und das Zusammenspiel räumlicher Formen als eine Gebärde oder Ausdrucksbewegung zu lesen, in der ein geistiger Gehalt erkennbar wird: »Unwillkürlich beseelen wir jedes Ding.«5 Und ›Beseelung‹ ist eben Wölfflins Name für die anthropomorphe Deutung dinglich-körperlicher Konstellationen.
Wölfflin begründet anhand des Konzepts der Beseelung eine anthropomorphe, gewissermaßen mimetisch-projektive Lesart der Architektur. Sie hat eine eigene Tradition begründet, die in der Gegenwartsarchitektur wieder aktuell geworden ist. Es sind jedoch vor allem zwei andere Aspekte des Wölfflinschen Raumkonzepts, die in der Folge relevant sind. Denn Wölfflin betont zunächst die dingliche Schwere und materielle Präsenz räumlicher Objekte als Wesensmerkmal ihrer Ausdrucksbewegung. Und derartig räumlich massive Präsenz hebt Wölfflin auch gegenüber Räumen hervor, in deren primär geometrischer Organisation sich die massive Materialität scheinbar zurückzieht. Ihm erscheint es selbstverständlich, daß »architektonische Gebilde nicht bloß geometrisch, sondern als Massenformen wirken«.6 So rücken die Volumetrie der baulichen Körper und ihre materielle Wucht ins Interesse der kunstwissenschaftlichen Betrachtung, nachdem sie gerade im 19. Jahrhundert von der idealistischen Philosophie latent disqualifiziert wurden.7
Und noch entscheidender und einflußreicher für eine theoretische Erfassung des gestalteten Raumes sind eben Wölfflins Hinweise auf die synästhetische Komplexität der Raumwahrnehmung. Wenn Wölfflin der architektonischen Raumauffassung eine quasimimetische Gestalt gibt, so nicht nur weil Bauwerke beseelt werden und Analogien von Baukörper und eigenem Körper geschaffen werden, sondern vor allem weil die Erfahrung des räumlichen Gebildes eine umfassend leibliche Angelegenheit ist: »Um das räumliche Gebilde ästhetisch zu verstehen, müssen wir diese Betrachtung sinnlich miterleben, mit unserer körperlichen Organisation mitmachen.«8
Einige Jahre später kehrte der Bildhauer Adolf von Hildebrand den Raumbegriff in seiner Schrift über Das Problem der Form in der bildenden Kunst9 noch ausdrücklicher hervor. Seine Schrift geht weniger von der Architektur als vielmehr von Skulptur und Plastik aus, wenn sie die Frage nach der Erfahrung des Raumes stellt. Sie knüpft jedoch an Fragestellungen an, die Wölfflins Architekturtheorie aufgeworfen hatte und konnte in der Folge auch und gerade architekturtheoretisch für anschlußfähig gehalten werden.
Im ›Raumganzen‹ als der Möglichkeit dreidimensional räumlicher Ausdehnung erkennt Hildebrand das Wesen bildnerischer Gestaltung. Und Raumganzes werde vor allem durch die Bewegungseinheit taktiler und visueller Wahrnehmung erfaßt. Die Kunst auch der räumlichen Gestaltung bestehe in der Formung eines Raumganzen zu einer ›Wirkungsform‹, einem lebendigen Gegenstand der visuellen und taktilen Wahrnehmung. Solche ›Wirkungsformen‹ füllen den Hohlraum der Welt mit belebten, sinnhaft angereicherten Volumina.
Entscheidend ist auch hier die Bestimmung der Raumwahrnehmung: Hildebrand denkt die taktile Perzeption als ihren notwendigen Bestandteil und unabdingbare Ergänzung der visuellen Wahrnehmung. Erst taktil erfassen wir den Unterschied von zweiter und dritter Dimension, weil wir ›Raum‹ so als konkreten Leibraum erfassen, in den wir selbst ›eingreifen‹ können. Hildebrand exemplifiziert seine Theorie der taktilen Raumwahrnehmung mit dem Unterschied von Kugel und Kreis, der ihm zufolge erst in der taktilen Wahrnehmung hervortritt. Ohne daß zumindest imaginär die taktile Wahrnehmung hinzukommt, bleibt der visuell erfaßte Raum flach.
Zur Wölfflinschen Vorstellung von der zwar leiblich-dynamischen, dabei allerdings primär mimetischen Wahrnehmung des Raumes, die diesen zum Gegenstand anthropomorpher Projektionen werden läßt, kommt bei Hildebrand insofern ein entscheidendes Moment hinzu: Mit dem Begriff der taktilen ›Bewegungsvorstellung‹ akzentuiert er die Ordnung des Raumes als Schema einer leiblich-praktischen Bewegungseinheit. So schließt die Wahrnehmung gestalteter Räume in Hildebrands Konzept die Bewegung im Raum ein, erst sie macht ›Form‹ plastisch erfahrbar. Der Schlüsselbegriff ›Form‹ weist für Hildebrand daher von Anbeginn auf einen taktil-visuell perzipierten Raum.
Hildebrands Schrift ist einflußreich, bedeutend nicht zuletzt aufgrund ihres Nachlebens. August Schmarsow spitzt sie noch einmal zu. Gegenüber den Vorgängerschriften von Wölfflin und Hildebrand haben seine Schriften einen systematischen Vorsprung: sie rücken die Bildenden Künste in ein umfassendes Konzept der räumlichen Gestaltung, das in einer Reihe von Schriften ausformuliert wird.
In Schmarsows Schriften wird die ästhetische Theorie räumlicher Objekte explizit zu Raumästhetik. Für ihn sind die Werke Bildender Künste »samt und sonders Raumgebilde«.10 Das theoretische Bemühen Lessings, die Einzelkünste in ihrer medialen Besonderheit zum Gegenstand der Ästhetik zu machen, wird bei Schmarsow noch einmal lebendig. Leitend ist auch bei ihm die Unterscheidung von Zeitkünsten und Raumkünsten, die selbst schon einen ästhetisch-normativen Charakter erhält.11 Die Raumkünste, die für den Kunstwissenschaftler Schmarsow im Zentrum stehen, sind dementsprechend idealiter eine bewußte Gestaltung von Raum.
Das Raumkonzept ist bei Schmarsow mindestens ebenso zentral, wie es bei Hildebrand schon war. Auch er pointiert den gestalteten Raum als Gegenstand sowohl visueller Wahrnehmung als auch leiblich-taktilen Verhaltens und hebt hervor, daß »durch die Erfahrungen unseres Gesichtssinnes, sei es auch unter Beihilfe anderer leiblicher Faktoren, die Anschauungsform des dreidimensionalen Raumes zustande kommt«.12 Die Wahrnehmung des Raumes erfolge nicht bloß visuell, sondern auch und vor allem taktil. Raum ist von vornherein Bewegungsraum.
Mehr noch als für Wölfflin, der die Selbstwahrnehmung als räumlich-körperliches Wesen ins Zentrum der mimetisch-projektiven Architekturerfahrung gerückt hatte, ausdrücklicher auch als für Hildebrand, dessen Fragen sich primär an plastischen Formen entzündeten, ist der Bewegungsraum für Schmarsow das Zentralthema der Architektur: »Das Gefühl für den eignen Leib als Körper im allgemeinen Raum ist auch die Grundlage für die Tektonik, und nicht nur für sie allein, sondern auch für das weite Schaffen der Architektur.«13 Deswegen gehen seine architekturtheoretischen Überlegungen immer auf den Körper zurück. »Aus unserer Körperbewegung erwächst das Grundkapital unserer Raumvorstellungen im Verkehr mit den Dingen.«14 Die Architektur ist für ihn ›Raumgestalterin‹ als Körpergestalterin.15 Sie ordnet Räume, die in der leiblichen Bewegung erfaßt werden: »Die Entfernung kann ich anschreiten und abtasten, den Raum vor mir kann ich Stück für Stück zurücklegen. Nachdem ihn meine vorwärts blickenden Augen schon im Voraus überschaut haben, ordnen sich nun erst beim Durchwandeln die Einzelheiten in ihrem tatsächlichen Abstand zueinander, bewähren nach dem bloßen Augenschein nun erst ihre volle Realität, eben als Körper im Raum wie ich selber.«16
Wo von Bewegungsräumen die Rede ist, da ist die Frage der Bewegungsfreiheit nicht weit. Begrenzung von ‚Raum‘ ist Begrenzung von Bewegungsraum und somit leiblich wirksam. »Die Länge dieser Tiefenachse durch den Raum hin bedeutet für das menschliche Subjekt das Maß der freien Bewegung im vorhandenen Bereiche.«17
Das modernistische Pathos einer unendlichen Öffnung und Befreiung des Raumes, (wie es bei Walter Benjamin eine Rolle spielt und wie wir es z.B. bei Le Corbusier und Siegfried Giedion kennen lernen werden) kommt bei Schmarsow noch nicht vor. Raumbegrenzung ist für ihn vor allem Einrichtung eines belebbaren Raumes, Gestaltung nach Maßgaben der Aneignung und des Bewohnens. Leibliche Subjekte, Körper, sind insofern primär als umbaute und hausende von Interesse. »Wo wir die Anwartschaft auf die ganze Weite da draußen durch eine Grenzwand abschneiden, da bescheiden wir uns, und mit solchen ›vier Wänden‹ stiften wir unser eigenes Heim.«18
Schmarsow thematisiert die architektonische Gestaltung als ›Raumabschließung‹, als Umgrenzung bestimmter Räume. Der wohnlichen ›Umschließung eines Subjekts‹ kommen dabei eher die Konnotationen des Einhüllens und Bekleidens als solche der Begrenzung oder Einschränkung zu.19 Allerdings hebt er auch hervor, daß ›Begrenzung‹ der Gestaltung bedarf, daß also kompositorische Spannungen einer gelingenden Abschließung des Raumes grundlegend angehören, um Raum nicht schlichtweg als einschließend erscheinen zu lassen.
Damit pointiert er ein Gegenspiel der Kräfte, das konstruktiv-geometrische Klarheit mit freien Formspielen in Spannung setzt. Die Ansprüche des ›Genügens und Genusses des Menschen‹, die Ansprüche eines flexiblen Wohngeschehens, können dabei mit der reinen architektonischen Konstruktion durchaus konkurrieren. Deswegen wäre »bei aller ausgesprochenen Vorliebe für Gesetzmäßigkeit und Regel«, wie es einmal heißt, »die starre reine Form allein dem Menschen auf die Dauer als seine tägliche Umschließung ein unerträglicher Zwang«.20
Gleichwohl bleibt die Geschlossenheit des baulichen Ensembles für Schmarsow als Bewertungskriterium entscheidend: »Die Selbständigkeit des Gebildes tritt uns umso überzeugender entgegen, je stärker die Senkrechte als Dominante des Ganzen entwickelt wurde; denn eben dies Gefühl, daß ein zweiter Meridian als Mittelachs dort, uns gegenüber vorhanden ist, bedingt die Anerkennung des Raumgebildes als Körper eigener Organisation außer unser selbst.«21 Raumformen, die beim Durchschreiten ein geschlossenes und harmonisches Ganzes verkörpern, sind für Schmarsow der Inbegriff der Architektur.
ührt sie sich gerade hier wiederum mit der Plastik. »Die Betrachtung des geschlossenen Bauwerks als eines Ganzen außer uns im allgemeinen Raum bedeutet schon einen beträchtlichen Schritt auf dem Weg zur Nachbarkunst, nämlich zur Plastik.«22 Doch während die Architektur primär mit der Gestaltung von Räumen zu tun hat und entsprechend als Raumbildnerin beschrieben wird, kommt Plastik als ›Körperbildnerin‹23 die Eigenschaft der Raumgestaltung nur sekundär zu.
Schmarsows Konzept der ästhetischen Raumgestaltung ist in vielfacher Hinsicht bis heute wegweisend. Er bestimmt die konkrete Einheit eines leiblich erfahrbaren Raumes als entscheidendes Kriterium der ästhetischen Gestaltung und hebt dabei grundlegende Spannung zwischen flexiblem Raumgebrauch und geometrisch-ästhetischem Raumkonzept hervor. Dabei rücken seine theoretischen Einlassungen zu Architektur und Plastik den formalen Eigensinn des ästhetischen Objekts ausdrücklich im Zusammenhang ihrer medientheoretischen Bestimmung als Raumkünste in den Blick.
Dabei wird die innere Zweckmäßigkeit des räumlichen Objekts (ob als Gebäude oder Plastik) in seine räumliche Gestalt hineinverlegt, deren Maß die leibliche Bewegung selbst ist: »Beim Bauwerk liegt der Gebrauchszweck nicht außerhalb, sondern in dem Raumgebilde selber.«24 Dieser Zug ist entscheidend für ein konsequentes Denken der Raumkünste und bleibt für eine Ästhetik des gestalteten Raumes auch weiterhin aktuell. Dennoch greift dieser Anspruch auch zu kurz.
Denn, wie Fritz Neumeyer hervorgehoben hat, geht es Schmarsow lediglich um die Frage der subjektiven Zweckmäßigkeit architektonischer Raumformen.25 Die Frage nach der Angemessenheit ästhetischer (Raum-)Formen gegenüber äußeren, sozialen Zwecken, oder auch die Frage nach der Angemessenheit avancierter technischer Mittel zur Verwirklichung spezifischer Raumformen – sie spielen bei Schmarsow nur eine untergeordnete Rolle. Für eine umfassende Architekturästhetik ist ihr Fragekatalog daher zu klein, gerade weil sie Architektur im engen Zusammenhang mit den schönen Künsten verstehen möchte. Die raumanthropologische Theorie ›schönen Bauens‹ gerät ferner mit ihrem eigenen umfassenden methodischen Ehrgeiz in Widerspruch, wo sie nämlich an der formalen Gestaltung des Raumes zugleich auch historisch-inhaltliche Signaturen erkennbar werden lassen will. Sollte die ‹Geschichte der Baukunst›, die sich hinsichtlich ihrer subjektiv ästhetischen Zweckmäßigkeit anhand der Theorien Schmarsows würde schreiben lassen, nämlich immer auch »eine Geschichte des Raumgefühls, und damit bewußt oder unbewußt ein grundlegender Bestandteil in der Geschichte der Weltanschauungen«26 sein, dann müßte sie auch ein Scharnier anzeigen, das zwischen historischen Denkweisen einerseits und anthropologischem Raumerleben andererseits vermitteln könnte. De facto aber bleibt der Anspruch, Signaturen des Historischen im Medium gebauter Formen erkennbar werden zu lassen, ein bloßes Postulat. Auf der Ebene historisch-sozialen Sinns von Raum bedarf die leibbezogene Theorie des gebauten Raumes einer Ergänzung.
Ursprungsraum und mittelbare Formen
Wölfflin und Schmarsow bleiben in ihrer grundlegenden Akzentuierung von Bewegungsräumen philosophisch anknüpfungsfähig. Auf dem philosophischen Markt kursiert weiterhin eine Reihe von raumphilosophischen Modellen, in denen die ›psychophysische‹, leiblich-anthropologische Dimension des Raumes über seine historisch-sozialen, seine symbolischen Dimensionen überwiegt. Oftmals mündet sie auf der Ebene expliziter und normativer Architekturtheorie in einer raumphysiologischen Ästhetik, in der unmittelbares Körperempfinden (mit allen systematischen Schwierigkeiten, die sich mit einer solchen Rede von vorsemiotischen Körperregungen verbindet) zum Hauptkriterium wird.
Die Tradition einer leiblich-anthropologischen Theorie der Räumlichkeit, wie sie in der Kunstwissenschaft um Wölfflin, Hildebrand und Schmarsow begründet wird, ist auch in der phänomenologischen Philosophie zunächst Martin Heideggers, dann aber vor allem Maurice Merleau-Pontys wirksam. Beide Autoren widmen sich existentiellem Raumerleben am Ursprung historischer Raumformen in ihren je konkreten Bedeutungszusammenhängen. Ihre Schlüsselschriften sind in der kunst- und architekturtheoretischen Diskussion dankbar aufgegriffen worden. Heidegger ist der Stammvater einer solchen phänomenologischen Raumphilosophie. ›Raum‹ hat bei ihm in der Dimension des Wohnens und des leiblichen ›In-der-Welt-seins‹ immer eine unmittelbar leibliche Pointierung. Es ist ein ›Im-Raum-sein‹, das den Raum gewissermaßen immer schon als je unseren Raum erscheinen läßt. Heideggers Raum ist je eigener Bewegungs- und ›Leibraum‹: »Ich bin niemals nur hier als dieser abgekapselte Leib, sondern ich bin dort, d.h. den Raum schon durchstehend, und nur so kann ich ihn durchgehen.«27 ›Raum‹ wird für Heidegger zu einem Schlüsselbegriff, weil ›Dasein‹ von Anbeginn räumlich verfaßt ist und somit als unhintergehbare Voraussetzung der symbolischen Konkretionen von ›Raum‹ gedacht wird. Zentraler jedoch und detaillierter als bei Heidegger selbst findet sich eine solch leibliche Phänomenologie des Raumes, die jenen in den Kontext einer Unmittelbarkeit des In-der-Welt-Seins rückt, bei Maurice Merleau-Ponty. Er stellt sich die Frage der leiblich-existentiellen Dimension von Raum und der räumlichen Dimension leiblicher Existenz zugleich ontologisch und transzendentalphilosophisch.28 Beide Perspektiven begegnen sich in einer transzendentalen Ontologie der Leiblichkeit, in welcher der räumlich situierte Leib als primordial und ursprünglich gedacht wird.
Denn räumliche Relationen eröffnen sich in Merleau-Pontys Perspektive erst einem räumlich wahrnehmenden Subjekt. Fülle und Leere, Drinnen und Draußen, Hier und anderswo, Oben und Unten, Nähe und Ferne würden, wie Bernhard Waldenfels im Anschluß an Merleau-Ponty ausgeführt hat, überhaupt nur vor dem Hintergrund einer räumlichen Situierung des leiblichen Subjekts erlebt. »Richtungen« etwa, so formuliert Waldenfels, »entstehen durch eine Bewegung des Sichausrichtens«.29 Ohne gerichtetes Subjekt könnten daher auch keine Richtung und kein Bezugsrahmen von oben und unten, links und rechts gedacht werden. Es bildet den Nullpunkt, »an dem eine Raumordnung mit ihren Richtungsunterschieden und Bewegungsspielräumen entspringt«.30 Weil aber alle räumlichen Koordinaten in Abhängigkeit von einem leiblichen Subjekt erst ihren Sinn ergeben, »haben wir es mit keiner bloßen Bewegung im Raum zu tun, sondern mit einer Bewegung, die einen Raum erst entstehen läßt«.31 Der »leiblich durchmessene« Raum erscheint dabei als ein ›Spielraum, der in unserem leiblichen Können verankert ist«.32 Der Leib ist die Matrix des räumlichen Erlebens, von dem her sich die Bedeutung räumlicher Formen erschließt.
Mit diesem existentialphilosophischen Zugriff auf ›Raum‹ sollen sowohl unvordenkliche Voraussetzungen (die ‚je schon da‘ sind) als auch elementare qualitative Wesensbestimmungen von Räumlichkeit erfaßt werden.33 Der leiblichen Existenz im Sinne Merleau-Pontys eröffnet sich ‚Raum‘ dabei nicht so sehr als vorhandener Gegenstand, sondern vielmehr als ein Raum, der unmittelbar zugegen, zuhanden ist, der sich aus der je eigenen räumlichen Situierung erschließt. »Unser Leib ist nicht wie eine Sache im Raum: vielmehr bewohnt er den Raum, geht mit ihm um, gebraucht ihn wie die Hand ein Werkzeug. Deshalb bewegen wir den Leib in der Ortsveränderung nicht wie einen Gegenstand mit. Wir transportieren ihn ohne Hilfe von Instrumenten, wie durch eine Art Magie, denn er ist unser Leib; durch ihn haben wir einen unmittelbaren Zugang zum Raum.«34
Die leibliche Existenz erscheint als ens realissimum. Alle räumlichen Relationen werden von der Positionalität des je eigenen Raumerlebens relevant. Räumlichkeit ist daher ›Situationsräumlichkeit‹ – die Erfahrung des jeweiligen räumlichen Situiert-seins. So heißt es: »die elementaren Kenntnisse von Punkt, Oberfläche, Umrissen haben letztlich nur für ein durch Örtlichkeit affiziertes [affecté de localité], im Raume situiertes und das räumliche Schauspiel von einem bestimmten Gesichtspunkt aus entfaltendes Subjekt einen Sinn.«35
Weil ›Raum‹ für Merleau-Ponty im Brennspiegel des leiblichen Subjekts hervortritt, ist die (visuell-taktil) synästhetische und kinästhetische Wahrnehmung des Raumes für ihn von besonderer Relevanz. Für ihn stellt sich der Wahrnehmungsprozeß nicht etwa als »eine Tasterfahrung und eine Seherfahrung«, sondern als »eine Gesamterfahrung« dar.36
Die Einheit leiblichen Erlebens ist der transzendentale Ordnungsfaktor solcher Gesamterfahrung. Doch dieses transzendentale Ordnungsmoment möchte auch mehr sein als nur formale Möglichkeitsbedingung von Erfahrung im Kantischen Sinn. Weil es Merleau-Ponty in letzter Instanz immer um den leiblich-existentiellen Grund von Räumlichkeit geht, ist seine Philosophie auch eine prima philosophia des Raumes. So heißt es etwa: »Der Raum wie die Wahrnehmung überhaupt markieren im Innersten des Subjekts das Faktum seiner Geburt, den beständigen Beitrag seiner Leiblichkeit, eine Kommunikation mit der Welt, die älter ist als alles Denken.«37
Der Frageperspektive einer Phänomenologie der Wahrnehmung ist die symbolische Einrichtung in räumlichen Bedeutungsfeldern somit zunächst sekundär. Sie erscheinen ihr, wie alles Denken, gegenüber der Ursprünglichkeit leiblichen Erlebens als zu jung. Die ›Symbolfunktion‹ oder ›Repräsentationsfunktion‹ hat immer »noch einen Boden, auf dem sie aufruht«.38 Gewissermaßen taucht die Phänomenologie Merleau-Pontys durch das Dickicht der mittelbaren symbolischen Formen hindurch auf den Boden der Unmittelbarkeit. Bedeutungssysteme, welche die je leibliche Existenz übergreifen, indem sie als überindividuelle semiotische Systeme Wahrnehmung und das Nachdenken darüber strukturieren und codieren, erscheinen somit als zweitrangig – ohne daß die konstitutiven Vermittlungen symbolischer Raumformen und des leiblich-transzendentalen Raumkonzepts noch ausdrücklich gedacht würden. Diese Phänomenologie versteht sich dementsprechend nicht als ›Auslegung‹, sondern als ›Gründung von Sein‹, indem sie auf dessen vermeintlich unvordenkliche Grundlagen geht.39
Zwar weiß Merleau-Ponty um symbolische Konkretionen von ›Raum‹. Der Leib als »unser Ausdruck in der Welt« wird durchaus als stiftender Leib zahlreicher Bedeutungsdimensionen akzentuiert. Er wird »als aktiver Leib, d.h. als ein Geste, Ausdruck und Sprache beherrschender Leib« gedacht. Er wendet sich »der Welt zu, um sie zu bezeichnen [signifier]«.40 So kann die Phänomenologie der Leiblichkeit durchaus zugestehen, daß wir als »Teile eines Symbolsystems« leben und uns ein sozialer, kultureller oder symbolischer Raum umgibt, »der nicht weniger wirklich ist als der physikalische Raum, auf dem er fußt«.41
Die immer wiederkehrende Metapher des ›Fußens‹ von Symbolischem auf einem ontologischen Grund ist jedoch verräterisch. Denn die Verschmelzung transzendentaler Leibesphilosophie (Philosophie dessen, was ›je schon da‹ ist) mit ›Wesensforschung‹ begnügt sich nicht mit dessen Unvordenklichkeit. ›Raum‹ wird elementar als vorsymbolischer Leibraum bestimmt. Die leibliche Akzentuierung räumlicher Existenz meint bei Merleau-Ponty daher nicht nur einen (transzendentalen) Grenzbegriff, an den seine jeweiligen symbolischen Konkretionen herangeführt werden, sondern einen vermeintlich bestimmbaren ontologischen Grund. Sie setzt sich damit allerdings einem zentralen semiologischen Vorbehalt aus: Wie kann auf das, was die irreduzible Grundlage allen Bedeutens sein soll, überhaupt bedeutungsvoll gedeutet werden?
Die Frage, inwiefern ›Raum‹ erst als material und symbolisch bestimmter überhaupt thematisierbar und belebbar ist und inwiefern sich historische Existenz ebenfalls ›je schon‹ innerhalb symbolischer Raumformen bewegt, wird in der Phänomenologie der Wahrnehmung zum Problem. Merleau-Pontys phänomenologische Theorie der Leiblichkeit zieht sich systematisch auf eine Unmittelbarkeit vor aller Zeichenpraxis zurück. Was »älter als alles Denken«42 und jenem dadurch letztlich gar nicht zugänglich ist, wird zu dessen letzter Wahrheit.
Die transzendentale Raumphilosophie Merleau-Pontys harrt aus diesen systematischen Gründen ihrer eigenen symbolisch-sozialen Konkretion. Ihr geht es um allgemein-anthropologische Strukturen im Wahrnehmen und ›Einräumen‹ von ›Raum‹ und nicht um sozial-konkrete. Zwar bereitet sie damit einer sozialphilosophisch oder soziologisch vertieften Besinnung auf ›Raum‹ den Weg. In der Philosophie des Nullpunkts bleiben die realen Koordinaten jedoch notorisch unterbestimmt. Für ein Denken des Raumes, das nach dessen symbolischer Dimension fragt, wäre eine solche Phänomenologie der Räumlichkeit wohl ohne besondere Relevanz, wenn sie nicht andernorts mit Blick auf ihre symbolisch-sozialen Konkretionen weitergedacht würde.
In Auseinandersetzung mit historischen und symbolphilosophischen Ansätzen hat insbesondere Bernhard Waldenfels die Raumanthropologie Merleau-Pontys fortgeschrieben. Er richtet seinen Blick mit Merleau-Ponty zwar durchaus auch auf die leibliche Situierung im Raum, doch darüber hinaus eben auf ›Raum‹ als symbolisch codierten Bewegungsraum, der seine eigene »Zeichensprache« spricht. So sind für ihn die »verschiedenen Raumorientierungen« auch »allesamt überdeterminiert« und unterliegen Bewertungen, in denen sich »bestimmte Ordnungsvorstellungen niederschlagen«.43 Der Subjektivität leiblicher Existenz werden auch transsubjektive Momente eingeschrieben. Somit ist der Leib für Waldenfels bereits ein Tableau historischer Einschreibungen. In deutlicher Anspielung auf Michel Foucault spricht er von historisch bestimmter ›Körpermoral und Körperpolitik‹, politisch-praktischen Dispositiven, durch die sich Leiblichkeit je erst formiert.44
Damit eröffnet sich mit Waldenfels’ Weiterführung der leibesphilosophischen Raumperspektive eine Dialektik der Unvordenklichkeit: Ist die symbolische Dimension des Leibes seiner Denkbarkeit vorgängig? Oder geht ›Leib‹ allen symbolischen Bestimmungen voraus? Wird ›Raum‹ erst als gestalteter Symbolraum überhaupt denkbar? Waldenfels eröffnet diese Aporie als einen Zirkel, in dem ›Leib‹ (und Raum) als transzendentalontologisch Erstes, auf dem alles weitere fußen könnte, unplausibel wird. Auf der Ebene des Leibes kehrt die Figur einer räumlichen Dialektik wieder. ›Leib‹ und ›Raum‹ bewegen sich in den Zirkel hinein. Sie begeben sich als einerseits vorausgesetzte und andererseits voraussetzende, als vorsymbolische Grenzkonzepte und zugleich symbolisch erschlossene in eine systematische Spannung.45 Leib und Raum erscheinen, um einen Begriff Helmuth Plessners aufzugreifen, als je ›vermittelte Unmittelbarkeiten‹.46 Waldenfels legt damit die systematischen Widersprüche offen, die sich in der phänomenologischen Tradition bereits vor allem bei Merleau-Ponty gezeigt haben, und räumt einen »kulturanthropologisch variierenden Zusammenhang von Leiblichkeit und Räumlichkeit«47 ein. Indem er sich in den Zirkel hineinbegibt und die Spannung eröffnet, denkt er zugleich auch über die ursprungsphilosophische Prägung von Raum und Leib hinaus. An die Stelle eines Ersten tritt eine begriffliche Spannung, die kein Erstes mehr zuläßt.
Das ist die entscheidende Einsicht, die sich für ein Denken symbolischer Raumordnungen aus den Schriften von Bernhard Waldenfels gewinnen läßt. Sie überwindet damit tendenziell die Schwierigkeiten, die sich aus einer ›prima philosophia‹ der Leiblichkeit ergeben. Signaturen des Sozialen, die sich als äußere Zwecke oder Funktionen in den Raum einschreiben, aber auch symbolisch-semiotische Dimensionen gebauter Formen treten in ihrer leibbezogenen Bedeutung hervor. Solche Fragen zu erörtern, erfordert jedoch zunächst eine Distanznahme von der phänomenologischen Perspektive leiblich-existenzieller Wahrnehmung – sie werden sich erst in Auseinandersetzung mit anderen Theorietraditionen verstehen lassen. Denn insgesamt gilt für die phänomenologische Tradition wie für Schmarsows Grundlegung zu einer Theorie der ästhetischen Raumgestaltung, daß sie sich ›Raum‹ ahistorisch und anthropologisch nähert und dem auslegenden Verständnis historisch-sozialer Bedeutungsschichten von ›Raum‹ dadurch gewissermaßen auch a priori enthoben ist. In dieser Kontinuität läßt sich die Theorie räumlicher Ursprünge in einen virtuellen Traditionsstrang eingliedern, der von den Theorien des Raumes am Ende des 19. Jahrhunderts ausgeht. Diese theoriegeschichtliche Achse findet relevante Ergänzungen in den Architekturtheorien der funktionalistischen Avantgarde, die sich selbst durchaus als Antwort auf den (raumtheoretischen) Subjektivismus verstanden haben.
Funktionale Rückbindung und Öffnung
Mit dem Nachdenken über ›Leib‹ und ›Raum‹ geht eine charakteristische Fixierung auf bloße Form einher. In den Augen des Architekturtheoretikers Julius Posener ist diese Bestimmung des Architekten als reiner Formgeber und bildender Künstler die schlechthin typische Zuschreibung des 19. Jahrhunderts. Der Architekt wurde als freier Gestalter schöner Formen gedacht, wodurch jedoch, während seine ästhetisch gestalterische Funktion überbewertet wurde, seine soziale Funktion gerade unterschlagen und geringgeschätzt wurde. Mit der Charakterisierung des Architekten als (bildender oder Raum-) Künstler machte es sich die ästhetizistische Architekturtheorie hinsichtlich der Herausforderung, die eine freie und selbstbestimmte (architektonische) Form bedeutet, insofern auch zu leicht.
Die moderne Architektur beginnt im Gegenzug als eine Krisis der ästhetischen Form, in der sich ausdrücklich die Frage nach der »Anbindung der ästhetischen Form an den sozialen Gehalt«48 stellt. Weil selbstbestimmte ästhetische Gestaltung nicht mehr selbstverständlich erscheint, reflektiert sie sich selbst in Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Funktion. Insofern bilden die Schwierigkeiten, die sich aus einem akademischen und ästhetizistischen Selbstverständnis des Architektenberufs ergeben, die zentralen Herausforderungen für die Architektur des frühen 20. Jahrhunderts.49 Die bloß subjektive Form des wahrgenommenen Raumes hat daher in der Theorie der Architekturavantgarde eine scharfe Gegenreaktion hervorgerufen. »Seit der Architekt bildender Künstler geworden war«, formuliert Posener, »hielt er den Gebrauch, den Zweck des Bauens zunehmend für die Last, welche es ihm verwehrte, künstlerische Gedanken so rein zu verwirklichen, wie der Maler das konnte. Der Gebrauch war der Klotz am Bein der Architektur, insbesondere der niedere, der alltägliche Zweck. Die Funktionalisten – nicht erst Gropius, bereits Leute wie Lethaby – waren die ersten, die das Gegenteil behaupteten: daß erst der Gebrauch, der ganz gemeine, alltägliche Zweck den Auftrieb gebe, der den Architekten überhaupt befähigte, Gedanken zu konzipieren.«50
Die theoretische Geste der Architektur-Avantgarde stellt sich damit der Vereinseitigung des Raumes hinsichtlich seiner individuellen Wahrnehmung und seiner bloß subjektiven Zweckmäßigkeit entgegen. In kritischer Auseinandersetzung mit einem Architekturdiskurs, wie er exemplarisch am Ende des 19. Jahrhunderts – auch und gerade von Schmarsow und Wölfflin – geführt wurde, geraten Kategorien räumlicher Gestaltung in die Krise. Andererseits erlebt die Raumdebatte im avantgardistischen Architektur-Diskurs einen neuen Höhepunkt, so daß Walter Prigge noch im Jahr 1998 schreiben kann, „daß der einzige substantielle Beitrag zur Raumdebatte in Deutschland von den Avantgarden des Neuen Bauens geliefert wurde«.51
In diesem Kontext gewinnt sich ein neues Selbstverständnis der Architektur im engen Bündnis mit soziologischer Theorie aus der Besinnung auf soziale Zwecke. Sie stellt sich die Frage nach den sozialen Direktiven, die sich dem zu gestaltenden Raum präsentieren: nach sozialen Bedürfnislagen und dominanten Auftragsstrukturen. Dem sozialen Wohnungsbau – vielleicht das Schlüsselthema der frühen Moderne – entspricht auf der Ebene der architektonischen Theorie die Besinnung auf gesamtgesellschaftliche Fragen nach der Funktion von Architektur und nach den sozialen Bedürfnislagen, denen sich das Neue Bauen zu widmen hat.
Denn tatsächlich ist die in moderner Wahrnehmung scheinbar ganz selbstverständliche Besinnung der Architekturtheorie auf Funktion und die Bindung der Architektur an äußere, soziale Zwecke erst ein Produkt der architektonischen Moderne. Sie beginnt in der Abgrenzungsgeste gegenüber ästhetizistischen Tendenzen in Historismus und Jugendstil. Insofern architektonische Form aber räumliche Form ist, geht die Frage nach der sozialen Funktionalisierung von Architektur letztlich in die Frage nach der Funktionalisierung und sozialen Bedeutung von Räumen über.
Offensiv thematisiert die Architektur der Avantgarde ihren eigenen Gebrauchscharakter. Und diese Thematisierung der lange verschwiegenen sozialen Bedeutung der Architektur hat im avantgardistischen Denken von vornherein den Charakter einer Politisierung. Der Funktionalismus baut, wie sich ihm die soziale Bedürfnis- und Auftragslage darstellt. Deswegen hat die anspruchsvolle Kritik der funktionalistischen Architektur wesentlich Gesellschaftskritik und Kritik der sozioökonomischen Voraussetzungen des Bauens zu sein.52
Avantgarde-Architektur, die auf ihre soziale Funktion abhebt, möchte Gesellschaft letztlich in souveräner Gestaltung begegnen, sie möchte selbst eine »Organisationsform des Zusammenlebens«53 sein. Die räumliche Form praktizierten Lebens erscheint als das entscheidende Instrumentarium. So stellen sich folgende Fragen: Welches Bauen und welche Räume braucht welche Gesellschaft? Aber auch: Wessen Architektur ist die Architektur? Und insofern: Wie ist souveräne ästhetische Gestaltung unter der Bedingung eindeutiger sozialer Zweckvorgaben möglich?
Mit dem theoriegeschichtlichen (und baugeschichtlichen) Einschnitt der Architektur-Avantgarde werden zunehmend die Kriterien offenbar, die über das bloß individuelle Raumempfinden hinausweisen. So markiert die Avantgardearchitektur einen Bruch, der von philosophischer Bedeutung ist. Sie rückt irreversibel die funktionalen Dimensionen von ›Raum‹ in den Horizont der Architekturtheorie und läßt dadurch auch die sozialen Dimensionen eines umfassenden Raumbegriffs erkennen. Neben einer Raumtheorie, die ›Raum‹ vor dem Hintergrund leiblich-individueller Wahrnehmung erschließt, stellt der Funktionalismus somit eine zweite, objektivistische Traditionslinie des Raumdenkens dar. Sie widmet sich ausdrücklich dem äußeren Raum, der eben nicht einfach auf das subjektive Raumerleben wahrnehmender Subjekte zu reduzieren ist.
In gewisser Hinsicht erscheint ›Raum‹ dabei eher aus der Vogelperspektive: in Gitternetzen und Planquadraten. Die Charta von Athen, die als Leitbild oder Reibungspunkt einen Stellenwert erlangte wie kein zweites architekturtheoretisches Manifest,54 mag das verdeutlichen. Jene Charta der CIAM formuliert paradigmatisch die Zergliederung des städtischen Raums nach sozialen Funktionen und zwar einerseits als gestalterisches Programm, andererseits aber auch als bestimmte Deutung des gebauten Sozialraumes. Was die Ordnung der Stadt betrifft, hatte die CIAM mit den Zentralfunktionen Wohnen, Arbeit, Erholung und Verkehr die Lebensbereiche benannt, die im modernen Städtebau zu trennen seien. Von der ›Festlegung abgegrenzter und den verschiedenen Funktionen einer Stadt entsprechender Zonen‹ und vor allem von ›Zellen‹ war die Rede.55
Das hat dem Funktionalismus schnell den Vorwurf eingebracht, die Stadt in ihrer komplexen Einheit durch Zergliederung und eine letztlich statische Raumkonzeption preisgegeben zu haben.56 Denn dem ersten Augenschein nach teilt das Konzept des gestalteten Raumes (und damit der Raumbegriff überhaupt) das Schicksal der Stadt. So wie die abstrakt-additive, lebenspraktische Funktion mit der Charta von Athen zum leitenden Maßstab von ›Raum‹ (zumindest von Stadtraum) wurde – so waren konkrete Räume in Gestaltung und Interpretation nunmehr als jeweilige Räume für und bezogen auf sozialen Nutzen relevant, eng verschmolzen mit sozialen Auftragslagen. Ein dynamischer Gesamtraum geriet dabei tendenziell aus dem Blick.
Inwieweit die charakteristische architektonische Form des Funktionalismus allerdings tatsächlich statisch auf die sozialen Direktiven, die ihr vorausgingen (und die nun auch offen thematisiert wurden), zu beschränken ist, läßt sich auf dieser Grundlage noch nicht beurteilen. Das gilt auch und vor allem deswegen, weil diese parzellierte funktionale Rückbindung gebauter Räume nur die eine Hälfte des avantgardistischen Raumdenkens darstellt. Die zweite Hälfte, eine Theorie der Öffnung und Dynamisierung des gebauten Raumes, reflektiert implizit auch den ästhetischen Eigensinn des architektonischen Aufbruchs, den die Avantgarde-Architektur bedeutete.57 Denn ihr geht es zentral um das Moment der Verschiebung und Verflüssigung überkommener Formprinzipien, damit aber eben auch um die Verflüssigung und Dynamisierung von Lebenspraxen, die sich mit ihnen verbunden haben.
Dafür steht insbesondere Siegfried Giedion, Weggefährte Le Corbusiers, Mitbegründer der CIAM und Meistertheoretiker der funktionalistischen Avantgarde. Im Jahre 1941 legt Giedion, der bei Heinrich Wölfflin promoviert hatte, sein chef d’oeuvre vor: Raum, Zeit, Architektur. Es enthält eine eigene Raumtheorie, in der die Öffnung und Dynamisierung des gebauten Raumes manifesthaft zum Thema wird. Giedion knüpft mit seinem Raumkonzept ausdrücklich an Dimensionen des Raumerlebens an, wie sie von Wölfflin und Schmarsow konzipiert wurden.58 Auch für ihn wird Raum explizit zu Bewegungsraum. Allerdings geht er dabei vorderhand weniger vom empfindenden Leib aus als vielmehr vom gebauten Architekturraum, weniger vom leiblich erlebten als vielmehr vom baulich strukturierten Bewegungsraum. Giedions Schrift präsentiert eine Geschichte der europäischen Baukunst, die sich im Horizont der Moderne die Frage nach der Aktualität des architektonischen Erbes stellt. Bereits der Nebentitel Die Entstehung einer neuen Tradition zeigt diese kunstpolitische Intention seiner Schrift an; sie ist für die Generation Le Corbusier, was Vasaris Vite für Michelangelo und den Manierismus waren: eine wirksame und kunstvolle, weit ausgreifende apologetische Erzählung.
Entstehung einer neuen Tradition meint zentral die Entstehung eines neuen Raumgefühls und Raumgefüges, das nämlich mit der zentralperspektivischen, auf einen bestimmten Betrachterstandpunkt ausgelegten Raumkonstruktion bricht. Die historische Koinzidenz von Relativitätstheorie und nicht-euklidischer Geometrie einerseits, Kubismus und Futurismus andererseits erlaubt ihm dabei eine bestechende Rhetorik, angesichts deren die moderne Architektur in vollem Pathos als historischer Zeitgeist erscheint.59 Zentralthema der modernen Raumdarstellung ist Giedion zufolge nicht länger das gestaltete Raumobjekt, wie es von einem bestimmten Punkt her erscheint, sondern die Vielzahl der Eindrücke, die ein wahrnehmendes Subjekt erhält, indem es sich um die Objekte herumbewegt. Am Kubismus hebt er hervor, wie dieser, indem er »Objekte zerlegte, transparent sah, [...] er sie gleichzeitig von allen Seiten, von oben und unten, von innen und außen«60 erfaßte. Vergleichbares entwickelt er an Malerei und Plastik des Futurismus.
Durch Auflösung des zentralperspektivischen Blicks in eine Vielfalt von Einstellungen sieht Giedion an zentraler Stelle das Moment der Bewegung in die Raumkonzeption Einzug gehalten. Mit der Kategorie der Bewegung trete eine ›vierte Raumdimension‹ auf die Bildfläche: die Zeit. Diese vierte Dimension lasse Kubismus und Futurismus mit der Relativitätstheorie korrespondieren, die ihrerseits, im Medium einer Theorie der Materie, Raum und Zeit als isolierte Pole verschwinden läßt.
Diese Raumkonzeption, für das »die Meister der modernen Malerei [...] unsere Augen öffneten«, erkennt Giedion auch in der modernen Architektur und Stadtplanung, der Gestaltung des äußeren Raumes wieder. Denn die moderne Architektur setzt für ihn gerade »mit der optischen Revolution am Beginn unseres Jahrhunderts ein, die den einen festgelegten Blickpunkt der Perspektive aufhob.«61 »Wie der Wissenschaftler, so kam auch der Künstler zu der Erkenntnis, daß die einfachen klassischen Konzeptionen von Raum und Volumen begrenzt und einseitig waren. Im Einzelnen wurde es vollkommen klar, daß die ästhetischen Qualitäten des Raumes nicht begrenzt sind durch die optische Unendlichkeit wie etwa in den Gärten von Versailles. [...] Eine erschöpfende Beschreibung von einem einzigen Augenpunkt aus ist unmöglich. Sein Aussehen wechselt mit dem Punkt, von dem aus er gesehen wird. Um die wahre Natur des Raumes zu erfassen, muß der Beschauer sich selbst in ihm bewegen. In den eisernen Wendeltreppen des Eiffelturms ist wohl zuerst rein körperlich das Erlebnis einer Durchdringung von Außen- und Innenraum möglich gewesen.«62
Diese Passage enthält die wichtigsten Thesen einer epochalen Theorie der Architektur. Giedion geht es um eine Theorie von ›Raum und Volumen‹, die über klassische Konzeptionen hinausreicht. Und eine solche klassische Konzeption sei nun vor allem die zentralperspektivische Raumplanung, mit ihrer statischen Fixierung eines Augenpunktes, wie sie idealtypisch in den Gärten von Versailles deutlich wird. Eine derartige, statische Unendlichkeit des zentralperspektivischen Raumes müsse durch eine Raumplanung überwunden werden, die der Bewegung im Raum Rechnung trage. Die Dynamisierung der Form in der modernen Architektur gründet Giedion zufolge in einem ebensolchen Raumkonzept, das er durch die verschiedenen Hauptströmungen der modernen Architektur hindurch als gemeinsames Strukturmoment rekonstruiert.
Wenn nun die Stahlkonstruktion des Eiffelturms mit seinen Wendeltreppen und der ›Durchdringung von Außen- und Innenraum‹ zum besonderen Beispiel erhoben werden, dann sind damit drei Aspekte der ›Zeit-Räume‹ angesprochen, die Giedion als epochal hervorhebt: Neben der Permeabilität von Innen und Außen (erstens), hebt sein Beispiel mit der spiralförmigen Mehrfachbewegung durch die Wendeltreppen zweitens auch eine Flexibilisierung der Binnenstrukturen des Gebäudes sowie drittens eine in der Stahlkonstruktion selbst sichtbare Spannung hervor, die nun im Aufeinanderwirken der gegenläufigen statischen Kräfte besteht und die Trennung von Stütze und Last (wie in der klassischen Säulenfunktion) zunehmend aufhebt. Diese drei Aspekte strukturieren seine Theorie der modernen Architektur.
Die Hauptlinien der modernen Formentwicklung, wie sie Giedion exemplifiziert, folgen der Entwicklung, die er bereits im Eiffelturm angezeigt sieht. Dabei erkennt er die Tendenz zur Öffnung der Fassaden und die zunehmende Durchdringung von Außen- und Innenraum auch und vor allem in der Glasarchitektur wieder. Immer wieder wird Glas vor allem wegen seiner ›entmaterialisierenden‹ Bedeutung hervorgehoben. Die Glasfronten von Walter Gropius (man mag an den Werkstattflügel am Bauhaus in Dessau denken), die dem Bau eine ›kristallartige Transparenz‹ gaben, zählen für ihn daher unmittelbar zum »Auflockerungsprozeß, der die ganze Architektur ergriffen hatte«.63 Insbesondere diese Durchdringung von Innen- und Außenraum eröffnet eine desorientierende Raumerfahrung, die das normalisierte Raumempfinden der architektonischen Tradition zu zerstreuen versucht und sie ins Unbestimmte einer neuen Bewegungsfreiheit öffnet. Ganz im Gestus der negativen Bewegung der Kunst, die Benjamin und Foucault in ihren räumlichen Denkbildern hervortreten lassen, wird die Durchdringung von Innen- und Außenraum, nach den Worten von Heinz Brüggemann,
als Aufhebung jeder Bestimmtheit der räumlichen Orientierung dargestellt, als ein Prozeß leiblicher Empfindung und rauschhafter, halluzinativer Wahrnehmung – das genaue Gegenbild jeder geometrischen Deutlichkeit und räumlichen Verortung.64
Das zweite Moment der Dynamisierung – die Beziehung der Innenräume zueinander – ist mit dem flexiblen Raumplan benannt; es findet im Programm des plan libre (und es ist vor allem Le Corbusier, den Giedion hier als baugeschichtlichen Pionier hervorhebt)65 seine reflektierte Form. Die Skelettkonstruktion ermöglicht eine Öffnung abgetrennter Raum- und Wohnsphären durch Treppenaufgänge, Durchgänge, Emporen oder Galerien, die flexible Gestaltung sowohl der Raumpläne eines einzelnen Stockwerks als auch der Beziehung verschiedener Stockwerke zueinander. Und wie bei Le Corbusier zum baulichen, so wird sie bei Giedion zum raumtheoretischen Prinzip.66
Drittens hebt Giedion plastische Konstruktionen hervor, die in sich selbst spannungsreich auf ein Bewegungsmoment hindeuten – eben so, wie sie in den gegenläufigen Rundformen des Eiffelturms, die sich gegenseitig in die Höhe tragen, schon angedeutet sind. Für ihn bringt Konstruktion im 20. Jahrhundert immer stärker die Tendenz zum Ausdruck, »jeden Teil des strukturalen Systems zu aktivieren und den Fluß der Kräfte nicht in einzelnen Linien oder Kanälen zu konzentrieren«.67 Insofern modellieren die neuen »Formen, Oberflächen und Flächen nicht nur den umschlossenen Raum«, sondern wirken »kraftvoll weit über die Grenzen ihrer eigentlichen meßbaren Dimensionen hinaus«.68 Wie im gotischen Spitzbogen oder eben in der Stahlkonstruktion des Eiffelturms nähert sich die moderne Architektur mit ihrer Orientierung an skulpturalen Formen noch in ihrer statischen Konstruktion der Dynamisierung an, weil sie die gegenläufigen statischen Kräfte exponiert.
Es kommt dann ein weiteres Moment hinzu, mit dem Giedion auch die Stadtplanung als zunehmend dynamische Raumplanung hervorhebt. Hier spricht er auch pro domo, als Repräsentant der CIAM. Mit größtem Interesse widmet sich Raum, Zeit, Architektur der Öffnung des städtischen Raumes für den Verkehr. Der Straßenverkehr, der den statischen Raum gewissermaßen mit Zeit durchspült, erscheint in seiner Perspektive als eine elementare Verlebendigung des städtischen Raumes. ›Raum‹ kommt dabei als Schauplatz, als Raum für Bewegung und Verkehr in den Blick – ob im Londoner Stadtteil Bloomsbury mit seinen zahlreichen offenen Plätzen und verkehrstauglichen Straßenzügen69 oder anhand des bereits ›modernen‹ Paris, in dem Baron Haussmann, wie es heißt, die Straße ›dominierend‹ werden ließ.70
Diese Geschichtsschreibung hat eine zukunftsbegeisterte baupolitische Absicht, die der Werbeprospekt zur amerikanischen Erstausgabe von Space, Time and Architecture verheißungsvoll andeutet: eine überdimensionierte Autobahnauffahrt.71 Für Giedion ist das Ideal der unumschränkten Zirkulation des Verkehrs (megaloman und bombastisch in Kenzo Tanges Entwurf für die Tokyoter Bucht) leitendes städtebauliches Prinzip. Die Dynamisierung des Baukörpers ebenso wie die des Stadtraums: Insgesamt illustrieren Giedions baugeschichtliche Beispiele ein theoretisches Projekt, dem es zentral darum geht, eine »Bedeutungsverschiebung vom Räumlichen zum Zeitlichen« einerseits, »vom Statischen zum Bewegten«72 andererseits zu gewinnen. Permeabilität und Transparenz, Durchdringung und Öffnung, Flexibilität und Zirkulation sind die großen Maximen.
Diese Raumtheorie beschreibt ›Raum‹ auch als einen durch gebaute Formen strukturierten Raum vielfältiger sozialer Praxen, der sich mit der modernen Architektur buchstäblich neuen Perspektiven öffnet. Mit ihrer Besinnung auf Öffnung und Dynamisierung einerseits und mit ihrer typisch avantgardistischen Engführung von sozialem Gehalt und gebauter Form andererseits enthält die Theorie des gebauten Raumes eine – mal offen, mal implizit thematisierte – Frontstellung gegen die Lebensformen, die in den umhüllten, eben noch nicht transparent gemachten, nicht dynamisierten Raumformen ihren Ausdruck gefunden hatten. So formuliert Giedion in Architektur und Gemeinschaft ausdrücklich, daß das Entscheidende an seinem Beruf [dem des Architekten] ist, daß er die Lebensform zu interpretieren und ihr einen entsprechenden Ausdruck zu geben hat. Darüber hinaus soll er Programme aufstellen, zu denen die wenig entwickelte Phantasie der Politiker und Behörden in unserer Zeit selten fähig ist.73
Architektur wird somit im Gewande der bloßen Formgebung zu einer Form der Politik, die bestimmte Lebensweisen sanktioniert. Darin sollen die neuen Raumerfahrungen, wie Heinz Brüggemann hervorgehoben hat, lesbar werden als Antizipation eines ›anderen Zustands‹,74 Giedion diskutiert den architektonischen Raum somit ausdrücklich auch als ›Raum des Ethischen und des Politischen, ein[en] Raum ungeteilter, universeller Partizipation‹.
Wenn also in der Avantgardearchitektur einerseits die enge Beziehung architektonischer, somit räumlicher Strukturen mit den Maßgaben des gesellschaftlichen Lebens beschrieben wird, wenn die Gestaltung gelebten Raumes andererseits zum Prinzip einer Verknüpfung von Kunst und Leben wird, dann scheint ›Raum‹ das entscheidende Bindeglied zwischen ästhetischer Gestaltung und gesellschaftlichem Leben zu sein. Die Raumtheorie Siegfried Giedions hat mit ihren impliziten Frontstellungen einen ästhetisch-politischen Gehalt, der für die gesamte Avantgardearchitektur charakteristisch ist. Das in ihr vorgedachte Verhältnis von räumlicher Form und politisch-sozialem Inhalt allerdings auch begrifflich plausibel zu machen, wird die Aufgabe einer soziologischen und philosophischen Theorie des Raumes werden, die schon nicht mehr im engeren architekturtheoretischen Rahmen steht.
Leibliche Texturen und Dispositive des sozialen Raumes
Durch die avantgardistische Architekturtheorie mit ihrer Besinnung auf soziale Funktionen erfährt das Denken räumlicher Gestaltung eine soziale Konkretion, die ihm im Ästhetizismus am Ende des 19. Jahrhunderts fehlt und die auch in der ursprungsphilosophischen Pointierung von ›Raum‹ aus dem Blick gerät. Räume erscheinen als funktionale Räume, die bestimmten sozialen Praxen dienen. Der avantgardistische Architekturdiskurs stellt daher einen wichtigen Fortschritt auf dem Weg zu einer symbolisch-sozialen Konkretion des Raumdenkens dar. Dabei kommen in der Architektur der Avantgarde und ihrem theoretischen Selbstverständnis erste Dimensionen einer Verflüssigung von Lebensformen zum Ausdruck, die sich zuvor in Architekturräumen verfestigt hatten. Der Eigensinn der ästhetischen Gestaltung behauptet sich in souveräner Geste gegenüber funktionalen Vorgaben, an denen sich die ästhetische Gestaltung zu reiben hat.
Im Zuge dieser Debatte treten auch die Inkonsequenzen der funktionalistischen Raumplanung hervor, die durchaus ihren konzeptuellen Rahmen berühren. Denn insbesondere auf der Ebene der Stadtplanung bleibt die funktionalistische Dynamisierung des Raumes vielfach unterkomplex, indem sie nämlich die Funktionsbereiche sozialer Praxis nicht so sehr als dynamische und flexible Bewegungsräume denkt, sondern eher als analytisch bestimmbare und statisch fixierbare Lebenssphären. Die funktionalistische Stadtplanung, wie sie in der Charta von Athen grundgelegt wurde, ließ mit dem Anspruch der funktionalen Gliederung daher die komplexe Einheit von urbanen Strukturen und gelebtem Raum in den Hintergrund treten.75
Die Kritik des Funktionalismus, die darauf abhob, daß der Funktionalismus die Stadt nicht in ihrer dynamischen Komplexität gedacht hatte, war insofern gewissermaßen immanente Kritik des Funktionalismus: sie griff das dynamische Moment der funktionalistischen Raumplanung affirmativ auf und übertrug es auf ihre statischen Momente. Robert Venturi formulierte in seinem Buch über Komplexität und Widerspruch in der Architektur, im Interesse an »der Architektur als einem urbanen Ganzen und dem Leben in ihr«,76 daß »Städte [...], wie die Architektur des einzelnen Bauwerks, vielfältig und widersprüchlich [sind]«, sich somit eben nicht einfach auf simplifiziert bestimmbare Funktionen reduzieren lassen.77 Ihm ging es in seiner Schrift, entgegen der Tendenz zur analytischen Zerteilung und Parzellierung des städtischen Raumes, um ein dynamisches Ganzes, das sich gegen schlicht modernistische Reduktionismen sträubte. »Eine Architektur der Komplexität und des Widerspruchs hat [...] eine besondere Verpflichtung für das Ganze: ihre Wahrheit muß in der Totalität – oder ihrer Bezogenheit auf diese Totalität – liegen. Sie muß eher eine Verwirklichung der schwer erreichbaren Einheit im Mannigfaltigen sein als die leicht reproduzierbare Einheitlichkeit durch Eliminierung des Mannigfachen. Mehr ist nicht weniger!«78
In den Diskussionen, die in Auseinandersetzung mit dem Funktionalismus seit den 60er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geführt werden und für die Venturis Buch ein besonderes Beispiel ist, wird der lebendige Zusammenhang der Stadt gegen die statische Gliederung der urbanen Funktionsbereiche hervorgehoben. Sowohl die Komplexität als auch die dynamische Einheit gebauter Räume rücken dabei ins Interesse.
In diesem thematischen Kontext kommt es zu einer pointierten Reformulierung und Weiterentwicklung der Theorie des Raumes, die bis dahin in leiblich-phänomenologische und avantgardistische Raumtheorien gespalten war. Ein theoretisches Konzept von ‚Raum‘ tritt hervor, das in Kontinuität zum Wölfflin-Schmarsow-Diskurs eine leibliche und ästhetische, zugleich aber auch, in Fortschreibung des Avantgarde-Diskurses, explizit soziale und politische Dimension hat.
»waren die Arbeiten dieses meistens mißverstandenen großen Vertreters des Marxismus im 20. Jahrhundert eine Hauptquelle für den Angriff auf den Historizismus und für die Wiederaneignung der Kategorie Raum in der kritischen Theorie. [...] Und er ist bis heute der herausragende historische und geographische Materialist.«79
Im Denken Henri Lefebvres kommen eine Reihe von Theoriesträngen in produktiver Weise zusammen, die ›Raum‹ in großer Komplexität hervortreten lassen. Soja deutet solche Theoriesynthesen an, wenn er dem historischen Materialismus das Attribut ›geographisch‹ beigesellt, somit neben der Orientierung an historischen Zeitachsen die Besinnung auf räumliche Koordinaten des Sozialen hervorkehrt.
Lefebvres marxistische Frageperspektive untersucht Aspekte räumlicher Vergesellschaftung vor dem Hintergrund der ernüchterten Einsicht in die Persistenz des Sozialen. ›Raum‹ läßt Lefebvre nach den veränderten Bedingungen des Politischen fragen. Denn seit Fernand Braudels Geschichte des Mittelmeers und Gramscis politischer Hegemonietheorie steht die Kategorie des Raumes für die historischen Dimensionen einer longue durée, jener geschichtlichen Unabänderlichkeiten, die sich nicht einfach wie im Sturm ergreifen lassen. Wenn Gesellschaft aber in ›Raum‹ erstarrt, was sind die Bedingungen der Veränderung des gesellschaftlichen Lebens? Lefebvres Antwort ist einfach und schwer zugleich: Um das gesellschaftliche Leben zu verändern, müsse zunächst und vor allem der soziale Raum umgestaltet werden.80 Diese Engführung von Raumformen und gesellschaftlicher Lebenspraxis verbindet Lefebvre von Anbeginn mit dem politischen Unterstrom der historischen Avantgardebewegung. La production de l’espace steht ästhetisch zwischen Avantgarde und Neoavantgarde (wenn auch auf Kriegsfuß mit der Architektur des Funktionalismus). Lefebvres eigene Begegnungen mit Tristan Tzara, Paul Eluard und den Surrealisten und nicht zuletzt mit den Situationisten, auf die er einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt hat, bilden den Hintergrund seiner ästhetisch-politischen Raumphilosophie.81 Neben dem Hinweis auf das Politische räumlicher Formen enthält seine avantgardistische Position auch den Hinweis auf das Räumliche der politischen Formen, mithin darauf, daß die politische Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens von ihrer räumlichen Gestaltung im kulturellen Prozeß abhängt.
Lefebvre denkt ›Raum‹ einerseits als prägenden, als eine Struktur, in der soziale Strukturen Dauer gewinnen und sich manifest reproduzieren. Andererseits stellt sich Lefebvre die Frage nach Raum aber mit Blick auf die Möglichkeit der gesellschaftlichen Veränderung. Vermutlich kommt die Vermittlung von innerem und äußerem Raum bei Lefebvre gerade aufgrund dieser aporetischen Ausgangssituation auf ihren Begriff. Denn ausdrücklich denkt Lefebvre ›Raum‹ in seiner dialektischen Struktur. ›Raum‹ ist geprägter und prägender Raum, structura structurans und structura structurata. ›Raum‹ wird in seinen sozialtheoretischen Schriften somit als Voraussetzung und Resultat sozialer Praxis erkennbar. »La pratique spatiale d’une société formuliert secrète son espace; elle le pose et le suppose, dans une interaction dialectique«.82
Die Dualität von prägendem Raum, der dem Handeln strukturell vorausgeht, und einer irreduziblen Praxis, die diesen dennoch zu prägen und zu gestalten in der Lage ist, wird im Anklang an die linguistische Terminologie auch als ›Kompetenz‹ und ›Performanz‹ benannt.83 ›Raum‹ ist in dieser doppelten Dimension nicht bloß ein strukturierendes Regelwerk, sondern auch die fortwährende Aktualisierung desselben in der tätigen Praxis. Analog zu Benjamins Figur des Flaneurs und Foucaults transitorischem Gedanken der Heterotopie läßt auch Lefebvre erkennbar werden, daß die Stein gewordene Kompetenz des räumlich fixierten Sinns einen aktualisierenden Gebrauch ermöglicht, der auch abweichende Bedeutungen generiert. Mit solch performativer Aktualisierung ist somit auch eine Eigenlogik der Praxis gegenüber dem Regelsystem benannt, das ihr strukturell vorausgeht. Räumliche Praxis steht in einer unaufhebbaren Spannung, ist zugleich reproduzierende und produzierende Praxis; sie wiederholt die sie leitende Struktur, kann in ihrem praktischen Vollzug potentiell aber immer auch über sich hinaustreiben.
Strukturiert und strukturierend ist Raum für Lefebvre (in erkennbarer Analogie zum strukturalistischen Schema von Real, Symbolisch und Imaginär) auf drei Ebenen: als gelebter Raum der sozialen Praxis (real), als konzipierter Planraum und konzeptuelle Raumideologie von Ingenieuren und Wissenschaftlern, die an der Schwelle ihrer materiellen Realisierung stehen und komplexe Deutungsapparate des Raumes beinhalten (symbolisch – das idealtypische Beispiel ist die Entwicklung der perspektivischen Raumordnung in der fiorentinischen Renaissance)84 – und als symbolischer Denkraum in Kunst und Poesie, der in der mentalen Sphäre und auf der Ebene der Wahrnehmung verbleibt (imaginär).85 Lefebvre hält sich nun allerdings nicht streng an strukturalistische Terminologie. In seiner Sprache wird der ›soziale Raum‹ von ›Repräsentationen des Raumes‹ und von ›repräsentationalen Räumen‹ unterschieden. Gelebt, geplant und wahrgenommen sind die praktischen Attribute, die den drei Ebenen historischer Raumparadigmen zukommen.
Das Reale des sozialen Raumes befindet sich in Lefebvres triadischem Modell (anders als in streng semiologischer Fassung) diesseits der Lesbarkeit und ist nicht schlechthin als Grenzbegriff des Symbolischen konzipiert. Der soziale Raum ist historisch produzierter Raum, der als solcher in seinen lebenspraktischen Bedeutungsschichten decodiert werden kann und der vor allem unmittelbar bewohnt wird.86 Er wird in dieser alltagspraktischen Bedeutung als (selbst schon symbolisch gehaltvoller) Zwischenbereich zwischen mentalen und rein physischen Räumen gedacht und ist somit das ausschlaggebende Dritte im räumlichen Gefüge, in dem sich Dinge und Bedeutungen ineinander falten.
Ausgehend vom Raum sozialer Praxis versucht Lefebvre, historische Raumparadigmen zur Lesbarkeit zu bringen. Die Metapher der Lesbarkeit weiß sich bei ihm jedoch ausdrücklich als Metapher. Der Vergleich des Decodierens und Entzifferns des sozialen Raumes mit der kontemplativen und distanzierten Haltung des Lesens ist aufgrund der unwillkürlichen, lebenspraktischen Deutung räumlich sedimentierter Bedeutung schief. »Le code de l’espace permettait à la fois d’y vivre, de le comprendre, de le produire.«87
Wenn man dennoch (auch in Anlehnung an die terminologische Übertragung von Kompetenz und Performanz in das Bedeutungsfeld räumlicher Praxis) die Schriftmetapher gebrauchen möchte, um zu verdeutlichen, worum es Lefebvre in seiner großen Arbeit zur Produktion des Raumes geht, dann ließe sich pointieren, daß Lefebvre die historischen Sprachen untersucht, in denen Raum geschrieben wird. Mit dem Begriff des räumlichen Paradigmas sind solche Bedeutungssysteme beschrieben. Er eröffnet die Fragen: Was bestimmt die räumlichen Codes in einer bestimmten Epoche? Wie können sie begrifflich erfaßt werden?
In der Philosophie Michel Foucaults hießen solche historischen Scharniere zwischen Theorie und Praxis ›Dispositiv‹. Foucault gab dem Begriff einen explizit räumlichen Sinn, der primär die historische Organisation von Leiblichkeit, ihre Verschränkung mit den historischen Diskursen akzentuiert. Bei Lefebvre erhält der gelebte und (re-)produzierte ›Raum‹ ebenfalls, in offenkundiger Analogie zu Foucault, einen solchen dispositiven Charakter. Das wird etwa dann deutlich, wenn Lefebvre die Übersetzung von räumlicher Praxis in historische Denkweisen und ihr Verhältnis zur Ideologie beschreibt: »La pratique a produit des espaces diversifiés selon un intuitus changé en habitus puis en intellectus.«88
Lefebvres systematische Bemühung, Raum als eine Schnittstelle von Struktur und Praxis zu denken, macht ihn zu einem durchaus weiterführenden Denker des Raumes. Weiterführend ist er in diesem Kontext vor allem deswegen, weil er hinter die leibesmetaphysische Ausdeutung von Raum nicht zurückfällt, sondern sie ebenso wie Benjamin und vor allem Foucault produktiv in die soziale Konkretion eines Denkens zu integrieren vermag, das von der räumlichen Dialektik seinen Ausgang nimmt. Gerade die leibliche Praxis im strukturierten Raum, der gestische Apparat der verräumlichten Subjekte tritt als systematischer Knotenpunkt in Lefebvres Raumtheorie hervor.89 »Le gestuelle encarne l’idéologie et la relie à la pratique.«90 Der gestische Apparat der sozialen Akteure tritt als das entscheidende Scharnier hervor, in dem sich Raumdispositive konkretisieren. Immerhin vollzieht sich, wie Pierre Bourdieu hervorgehoben hat, »die körperliche Einschreibung der Strukturen der sozialen Ordnung […] zu einem Großteil vermittels der Verlagerungen und Bewegungen des Körpers, vermittels körperlicher Stellungen und Körperhaltungen, die durch jene in Raumstrukturen umgewandelten sozialen Strukturen organisiert und sozial qualifiziert werden [...].«91
Auf diese Weise gehen soziale Funktionen von Raum mit dem scheinbar unmittelbaren leiblichen Raumerleben ein Bündnis ein, weil sich die Bedeutungsschichten von Raum in leiblicher Praxis manifestieren. Als Schnittstelle zwischen den ›mentalen Strukturen‹ und der sozialen Praxis wird Raum vor diesem Hintergrund als Dispositiv erkennbar.92
So wie jedoch immanente Raumpraxis auf ihre leiblich-gestischen Konkretionen befragt wird, so ist, entsprechend, auch performative, bedeutungsschaffende und überschreitende Praxis im strukturierten Raum für Lefebvre leibgebunden. Der soziale Leib der handelnden Akteure ist bezeichnend und bezeichnet zugleich, potentiell immer bereits mehr als die Manifestation der räumlichen Strukturen, in denen er sich bewegt.
Soweit das Deutungsschema, mit dessen Hilfe Lefebvre der Entwicklung historischer Raumparadigmen nachgeht. Das geschichtliche Entwicklungsschema, anhand dessen er die historischen Entwicklungsstufen charakterisiert, greift wesentlich auf die Marxsche Geschichtsphilosophie zurück. In der Entwicklung einer bürgerlich-individualistischen und mathematischen Rationalität in der frühen Neuzeit versucht er ein dem Kapitalismus entsprechendes Raumparadigma zu erkennen. Er stellt ihm einen vorneuzeitlichen, kultischen, ›absoluten Raum‹ entgegen, der sich auf ein Jenseits des sozialen Raumes bezieht, um aus dessen Überwindung den ›abstrakten Raum‹ des Kapitalismus erläutern zu können.
Die einleuchtendsten Beispiele für einen solchen abstrakten Raum der (wie man von Lefebvre vereinheitlichend zu denken genötigt wird) ›bürgerlich-kapitalistischen Neuzeit‹, sind die Beispiele der perspektivischen Raumerschließung in Malerei und Architektur der Renaissance. Sie lassen vor allem hinsichtlich der Differenz zum absoluten Raum folgendes deutlich werden: Der abstrakte Raum ist – gegenüber dem absoluten Raum archaisch-religiöser Gemeinschaften – einerseits konkret, weil er sich auf der Ebene des empirischen Raumes bewegt. Dennoch ist er als quantifizierter Raum mathematischer Erschlossenheit auch abstrakt, weil er dadurch von allen qualitativen Bestimmungen abgeschnitten bleibt. Insofern wird im abstrakten Raum zwar ein auf allen Ebenen irdisches, dennoch aber abstrakt quantifiziertes Raumparadigma erkennbar: Er gründe zwar im empirischen Raum der sozialen Praxis, unterwerfe sie jedoch zugleich einer geometrischen Logik der Visualisierung und Quantifizierung.
So entfaltet Lefebvre die Grundstruktur des abstrakten Raumes anhand der Leitlinien der Marxschen Theorie. ›Raum‹ wird hinsichtlich der Teilung von abstrakter und konkreter Arbeit, (quantitativem) Tauschwert und (qualitativem) Gebrauchswert untersucht, um als funktionaler, gesellschaftlicher Raum ausgewiesen werden zu können.
Die Analogisierung von abstrakter Arbeit und abstraktem Raum bildet eine zentrale textuelle Strategie. Denn mit der Dominanz der abstrakten (d.h. tauschwertproduzierenden und in zeitliche Quanta aufgespaltenen) Arbeit verändere auch ›Raum‹ seine historische Gestalt. Marxistisch gedacht werde ›Raum‹ somit tendenziell seines umfassenden sinnlichen Gebrauchswerts entledigt und zunehmend unterkomplex. ›Abstraktem Raum‹ wohnt die Neigung inne, sich als homogenisierenden Systemraum zu setzen.
Dadurch geht mit dem abstrakten Raum jedoch auch eine Dynamik der Exklusion einher. Die Homogenisierung stößt mit der Dimension gesellschaftlichen Lebens, das unberechenbare Räume spontaner Gemeinschaften erschafft, an ihre Grenzen. Lefebvre benennt diese an den Grenzen aufschimmernde Möglichkeit eines Gegenraumes als ›differentiellen Raum‹ sozialer und politischer Gemeinschaften, die sich der an ökonomischer Effizienz und visueller Transparenz ausgerichteten Raumplanung widersetzen: »Les différences se maintiennent ou débutent en marge de l’homogénéisation, soit comme résistances, soit comme extériorités (le latéral, l’hétérotopique, l’hétérologique.)«.93
Der ›differentielle Raum‹ bezeichnet insofern Räume, die sich nicht in die Logik des ›abstrakten Raumes‹ fügen, indem sie sich entweder ihrer Form nach nicht in das leitende Raumparadigma einpassen oder aber sich den Gegenkulturen öffnen.94 Er ist ein konfliktualer Raum, in dem hegemoniale Bedeutung, die sich räumlich manifestiert, auch transformiert und reartikuliert wird.95 Genau in diesem Sinn ist der ›differentielle Raum‹ Lefebvres normativ-ästhetisches Prinzip, das seiner gesamten Theorie der Überformung räumlichen Sinns unterliegt.
Als allgemeine und historisch groß angelegte Raumtheorie bietet Lefebvres Schlüsselwerk eine Menge starker Thesen. Allerdings lassen sich die architekturtheoretischen Gedanken, die in sein Raumkonzept eingelassen sind, erst richtig verstehen, wenn man sich dieses historisch-politische Deutungsschema und die Umrisse einer Theorie des abstrakten Raumes vor Augen hält. Gerade der gebaute Raum der Architektur und Stadtplanung ist Levebvre ein integraler Bestandteil der allgemeinen Produktion des Raumes mitsamt seiner politischen Implikationen. Das heißt für ihn ausdrücklich, daß das allgemeine Konzept des (produzierten) Raumes jeder Analyse der Architektur vorauszugehen habe. Für ein angemessenes Verständnis der Architektur »il faut avoir déjà analysé, puis exposé l’espace«.96 Es gibt dementsprechend keine unschuldige Raumgestaltung. Räumliche Formgebung steht im symbolisch-politischen Prozeß.
Umgekehrt erscheint Raumgestaltung nach individuellen Maßgaben des Architekten und subjektiven Formbedürfnissen vor diesem Hintergrund, wenn auch nicht als unmöglich, so doch immerhin allzu leicht als Illusion. Denn tatsächlich sei der subjektive Raum des Architekten, wie Lefebvre schreibt, überformt von »significations très objectives«,97 von den strukturgebenden Maßgaben ökonomischer und politischer Macht. Das zeigt sich allerorts in seinem Urteil über die funktionalistische Architektur-Avantgarde. Denn trotz einiger Parallelen zum architektur- und raumtheoretischen Projekt Siegfried Giedions (etwa die Kritik der perspektivischen Raumordnung oder die Besinnung auf die leiblich-dynamischen Dimensionen des Raumes und seiner Wahrnehmung) steht Lefebvre der modernistischen Architektur und ihren Ursprüngen ausgesprochen skeptisch, wenn nicht gar ablehnend gegenüber. Insgesamt erscheint ihm das Postulat der Funktionalität (trotz des sozialen Engagements, durch das es historisch ins Leben gerufen wurde) als Transmissionsriemen für eine gesteigerte Ökonomisierung und Verdinglichung der räumlich fixierten gesellschaftlichen Verhältnisse.
Die funktionalistische Architekturavantgarde tritt in La production de l’espace somit vor allem als eine Avantgarde des abstrakten Raumes, aber eben nicht als die Befreiung, Öffnung und Erweiterung der Lebensformen hervor, die Le Corbusier und Giedion vorgeschwebt haben mögen. Lefebvre kritisiert vor allem das analytische und reduktive Paradigma der architektonischen Transparenz, weil es mit der Orientierung an der transparenten Fläche an der Vorherrschaft des Visuellen teilhabe und eine Reduktion synästhetisch konkreten Raumerlebens bedeute.98
Mit der von Giedion hochgeschätzten Rehabilitierung der Fläche in der modernen Architektur weiß Lefebvre nicht viel anzufangen. Sie bringe eine Vernachlässigung des Volumens zum Ausdruck, welche die Architektur insofern buchstäblich oberflächlich werden lasse: »Le volume s’efface devant la surface«.99 Somit bleibe aber die avantgardistische Kritik der Fassade inkonsequent und auch die moderne Architektur in ihrem Kern repräsentativ, an äußerem Schein und wirkungsmächtigen funktionalen Vorgaben orientiert.
Was Le Corbusier mit großem Pathos (und mit Giedions Unterstützung) als Befreiung und Öffnung des Raumes zu propagieren wußte, ist in den Augen Lefebvres nichts anderes als eine »fracture de l’espace«,100 in der konkretes Raumerleben durch analytische Zergliederung an die Bedürfnisse der mehrwertproduzierenden ›Maschine‹ angepaßt wird.
Sein zentrales Argument gegen die modernistischen Planräume ist der autoritäre Charakter von urban design und administrativer Raumplanung, in der Bündnisse finanzkräftiger Investoren, staatlichen Bürokratien und jeweiliger Star-Architekten dominieren. Architektur wird hier zur Komplizin und dies nicht nur als neutrales Werkzeug, sondern als produktive Instanz, die mit der Verräumlichung sozialer Herrschaft jener auch erst Wirksamkeit verschafft.
Im Zuge dieser Kritik weiß Lefebvre eine untergründige Beziehung der modernen Architektur zur Visualisierung im Sinne staatlicher Bürokratie und Überwachung zu suggerieren. Seine Kritik der funktionalen architektonischen Moderne erinnert dabei deutlich an das Programm, das Foucault (einige Jahre nach dem Erscheinen von La production de l’espace) als Kritik des panoptischen Blicks der Überwachung entfalten sollte. Panoptismus stellt sich auch für Lefebvre, der den Begriff freilich nicht verwendet, als eine abstrakte Logik der Visualisierung dar, deren Kontrollräume die Synästhesien räumlichen Erlebens tendenziell vernichten.101
Der autoritäre Zug der Planung, den Lefebvres Raumtheorie akzentuiert, wird auch und gerade an dem hervorgehoben, was Giedion besonders emphatisch propagierte, nämlich einer Stadtplanung, die sich den Anforderungen des Straßenverkehrs beugt. Der urbane, automobile Verkehrsraum ist für Lefebvre der Inbegriff eines abstrakten Raumes, in dem die sozialen Atome abgeschottet in zentimeterdickem Blech ihre wechselseitige Entfremdung reproduzieren.102 Weil die moderne, funktionale Architektur und ihre Vorläufer also auf vielschichtige Weise dem Generalverdacht obliegen, sich mit dem ›abstrakten Raum‹ zu verbünden, kann er ohne weitere Differenzierung schreiben: »Ce qui aboutit à une pratique spatiale autoritaire et brutale: celle d’Haussmann, puis celle codifiée par le Bauhaus et Le Corbusier, à savoir l’efficacité de l’esprit analytique dans et par la dispersion, la séperation, la ségrégation.«103
Lefebvres historisches Schema eröffnet auf polemische Weise große historische Gegensätze. In ihrem Lichte bleibt letztlich nicht viel anderes sichtbar als die Antithese von bürgerlich-kapitalistischer Neuzeit und der vagen Möglichkeit ihrer sozialistischen Überschreitung. Weil sie sich eben in die funktionalen Erfordernisse der kapitalistischen Moderne eingefügt haben, kann er die Neuerungen der modernen Architektur nicht würdigen. Als romantischer Marxist steht Lefebvre der architektonischen Moderne mit Unverständnis gegenüber. Etwas erinnert seine ungleichzeitige Haltung damit an den Monsieur Hulot aus Jacques Tatis Trafic oder Playtime – unverbesserlich in doppeltem Sinn.
Anders stellt sich Lefebvres Verhältnis zur räumlichen Praxis der Neoavantgarde dar, insbesondere zu jener der Situationisten. Seine polemische Auseinandersetzung mit dem Funktionalismus und der architektonischen Moderne wird insgesamt vermutlich erst vor dem konkreten Hintergrund seiner eigenen kunstpolitischen Intentionen verständlich. Mit der Situationistischen Internationale finden, Lefebvre zufolge, Modelle des gelebten, differenziellen Raums ihre adäquate Form. Sie lassen räumliche Praxis in ihrer konstitutiven Spannung von Planung und Realisation, Modell und Wirklichkeit in ihrer utopischen Dimension und als ›Vorschein‹ einer anderen, noch nicht im Raum verwirklichten Welt deutlich werden.104 In den konkreten Raumaktionen der Situationisten kehren theoretische Motive Lefebvres wieder. Sie stellen sich allesamt als eine sperrige und reflexive Aneignung des Raumes dar – man mag hier an die Herstellung von Situationen im städtischen Raum, an das Postulat der Zweckentfremdung (insbesondere städtisch-räumlicher Strukturen) an die psychogeographischen Studien oder die Untersuchungen zu einem Stadtraum des Vagabunden denken.105
In seiner Beziehung zum situationistischen Projekt erscheint der Antifunktionalist Lefebvre einmal als ausgesprochen modern, ultramodern gewissermaßen, wenn er die Rationalität moderner Raumgestaltung emanzipatorisch zu überbieten versucht. Andere Beispiele ästhetisch-politisch gelungener Räume unterstreichen dagegen eher den romantischen Substrom seiner Schriften: Klöster, Loire-Schlösser, die Alhambra sowie einige Villen Palladios stehen ihm vor Augen.106 Das macht nur allzu deutlich: Als architekturkritische Perspektive ist das pauschalierende Schema Lefebvres mit seinen romantischen Präferenzen mehr als unzureichend.
Die in ihr enthaltenen architekturästhetischen Gehalte sind dennoch weiterführend, insofern sie die räumliche Dialektik und die räumliche Verknüpfung von Leiblichkeit und Gesellschaft auf eine neue Reflexionsstufe heben. Denn als Hülle und Form gesellschaftlichen Lebens ist der gebaute Realraum für Lefebvre untrennbar mit der realen Praxis verschränkt. Er gilt ihm dabei als die Verlängerung des handelnden Körpers, der wiederum äußerste inhaltliche Bedeutungen in die räumliche Form einschreibt. Lefebvres Raumtheorie eröffnet den ästhetisch-politischen Zusammenhang von Form und Inhalt insofern auf hohem begrifflichem und systematischem Niveau: Für ihn ist alle soziale Praxis räumlich gegenwärtig und durch Raum strukturiert, Raum gerade deswegen in seiner qualitativen Dimension erkennbar. Dabei ist es die formale Gestalt des Raumes selbst, der inhaltliche Dimensionen zukommen: »On peut réduire un espace à des éléments formels: la ligne courbe et la ligne droite, ou les rapports interne-externe, volume-surface.«107
De-Repräsentation und Performanz gebauter Räume
Räume sind, so läßt sich die raumtheoretische Diskussion von Schmarsow bis Lefebvre resümieren, Bewegungsräume für leiblich situierte Akteure und haben ihre äußerste Konkretion in erlebten ›Leibräumen‹. Architektonische Formen arbeiten dabei, insofern sie Bewegungen strukturieren, auf subtile Weise, wie Umberto Eco es genannt hat, ›psychagogisch‹. Denn »mit sanfter Gewalt [...] werde ich dazu gebracht, die Anweisungen des Architekten zu befolgen, der nicht nur Funktionen bedeutet, sondern sie in Gang setzt und steuert«.108 Dieses psychagogische Moment erscheint zugleich als die Ebene, auf der sich architektonische Formen in soziale Bedeutung verwandeln. Indem er räumliche Formen als ›strukturbildenden Zwang‹ kennzeichne, weist Eco zugleich auf die politische Dimension einer architektonischen Materialisierung sozialer Bedeutung hin. Architektur inkorporiert soziale Bedeutung und läßt ›Leib‹ zur Schnittstelle qualitativer Raumsysteme werden. Soziale Bedeutung wird in diesem Sinn, wie man mit Richard Sennett sagen kann, Fleisch und Stein.109
Das tritt an Minoru Yamaski, einer tragischen Figur der architektonischen Moderne, in besonderer Deutlichkeit hervor. Sein doppeltes Scheitern hätte pompöser nicht sein können: Charles Jencks hatte die Sprengung der Sozialsiedlung Pruitt-Igoe in St. Louis, Missouri, in seinem Buch über die Sprache der postmodernen Architektur zum ›Tod der modernen Architektur‹ stilisiert.110 Ein zweiter Gebäudekomplex des amerikanischen Architekten wurde am 11. September 2001 zerstört: das World Trade Center in New York, der bis dahin vermutlich exponierteste Bürokomplex der Welt.111 In beiden Fällen wurden mit den Gebäuden auch soziale Bedeutungen attackiert, insofern Architektur eben ›significations très objectives‹112 materialisierte.
Gerade diese Materialisierung räumlicher Bedeutung in bestimmten, codierten, geschlossenen Raumsystemen, eröffnet die Herausforderung einer freien, variablen Raumpraxis, welche die sinnhafte Überformung von ›Raum‹ tendenziell zu unterlaufen in der Lage ist. Als Anspruch und Herausforderung zieht sie sich durch die gesamte Diskussion des architektonischen Raumbegriffs hindurch. Giedion möchte den architektonischen Raum als Bewegungsraum dynamisieren, Lefebvre läßt den gelebten Raum zur widerständigen Unterseite des geplanten Raumes der urban designers werden. Ästhetischer Raum kann Lefebvre zufolge insofern nur gelingen, wenn er sich schon in der formalen Gestaltung zur Vielfalt der gesellschaftlichen Praxis öffnet.
Im Zuge einer derepräsentationalen Aneignung des Raumes unterliegt Lefebvres wie Giedions Raumtheorie ein ästhetisch-politisches Prinzip. Lefebvre führt mit seiner Kritik der abstrakten, tendenziell leblosen und starren modernistischen Raumgefüge die Reflexionen fort, von denen auch die funktionalistische Avantgarde getragen war. Die Öffnung des architektonischen Raumes hin zu einem vielfältigen und dynamischen Gebrauch steht hier wie dort im Vordergrund. John Rajchman hat ein solches Programm als ein architektonisches Ethos formuliert, das die ästhetischen und politischen Dimensionen einer Öffnung gebauter Räume in eine unbestimmte Vielfalt möglicher Aneignungspraxen verdeutlicht: »our ethos consists in our multiple manners of being and how they are woven together; and in such manners there always lies the possibility of light movement in formless space, prior to both the material assignment of place and time and the immaterial mastery of space and form. The function of lightness thus is found in a certain ease or freedom in movement.«113
Der gelebte Raum der sozialen Praxis, die unendliche Möglichkeit des ›differentiellen Raumes‹, ist ein Handlungsraum, der sich aus den Regelwerken des historischen Raumparadigmas durch dessen Verschiebung potentiell herauszuwinden in der Lage ist. Er tritt als ein Raum hervor, der sich zum Unbestimmten öffnet, indem er eben jene Grenzlinien verschiebt, die (als Materialisierung der sozialen Direktiven, die in Architekturen eingeschrieben sind) die räumliche Praxis der Architektur wesentlich kennzeichnen.
In diesem Sinn läßt sich die Öffnung räumlicher Formen auch als Verschiebung materiell manifestierter sozialer Praxis deuten. Gerade anhand dieser Verschiebung kommt der Architektur auch für einen Augenblick ein Eigensinn zu, der sich über die bloße Abhängigkeit von der Bestimmtheit externer funktionaler Vorgaben zu emanzipieren vermag. Im Zeichen dieser eigensinnigen und eigenlogischen Bewegung erscheint der geordnete Raum «nicht mehr«, wie Vilém Flusser formuliert, »als künstliche Höhle, sondern als Krümmung des Feldes der zwischenmenschlichen Relationen«.114 Die negative Bewegung der Architektur erschließt Deutungs-, Nutzungs- und Bewegungspotentiale und unterhöhlt damit auch priorisierte und tradierte Raumformen.
Dieses architekturästhetische Programm einer Öffnung des architektonischen Raumes zum Unbestimmten, wie es in der Tradition der architektonischen Raumtheorie und in der Raumästhetik von Benjamin und Foucault enthalten ist, führt eine Vielfalt von Theoriesträngen zusammen. Umberto Eco orientiert sich in seiner Semiotik der Architektur an der Offenheit des raumgestaltenden Vokabulars der Architektur, das damit zugleich zum ästhetisch-normativen Prinzip wird. ›Variable Funktionen‹ zu entwerfen, wird zur Aufgabe einer Architektur, die damit immerhin partiell beginnt, sich frei zu ihrer sozialen Bestimmtheit zu verhalten.115 Bernard Tschumi deutet Architektur analog als einen Ort der Konfrontation zwischen Raum und Handlung, an dem ein »Wechselverhältnis zwischen dem architektonischen Raum und den Menschen« eröffnet wird und somit auch eine Öffnung räumlicher Fixierungen zur Ambivalenz ihrer deutenden Aneignung erkennbar wird.116
Jüngst hat der Schweizer Architekt Ernst Hubeli mit implizitem Verweis auf Tschumi davon gesprochen, daß sich der architektonische Raum idealiter darin konkretisiert, daß er »laufend durch Aneignung interpretiert werden muß«. In seinem Sinne habe die Architektur von einer bestimmten Form zu einer unbestimmten ›Überform‹ zu finden, »unvollständig genug, um eine subjektive Aneignung zu ermöglichen.« Diese Öffnung des architektonischen Raumes erzeugt sich gerade durch eine ›Differenz‹, nämlich zum »inszenierten und simulierten Raum, der nicht aneigenbar ist, weil in ihm alle Bedeutungen schon bekannt sind«.117
Neben solchen Programmen, treten vor allem auch Strategien hervor, anhand derer die symbolische Ordnung des gebauten Raumes in der ästhetischen Praxis geöffnet, distanziert und verfremdet wird. Eine mögliche Strategie architektonischer Raumöffnung war das ausdrückliche Thema von Siegfried Giedion: die Öffnung des architektonischen Raumgefüges in der Avantgarde-Architektur. Ihre negative Bewegung in Bezug auf die fixierte Ordnung des Raumes (ob im Sinne von Loos’ ›freiem Raumplan‹, Gropius‘ ›fließendem Raumkontinuum‹, Le Corbusiers ›plan libre‹ oder Lloyd Wrights ›destruction of the box‹) ist in diesem Zug erkennbar mit der Dynamisierung des Raumes verbunden.
Solche Öffnung und Dynamisierung zeigen auch eine Freigabe von Räumen an. Walter Benjamin hat dieses Pathos der tabula rasa, auf der die Spuren verwischt werden, ins Zentrum seiner Raumästhetik gehoben und die Unbestimmtheit des Offenen pointiert. Solcher Freigabe von Räumen entsprechen die leeren Räume des Städtebaus sowie »das clearing ungenutzter oder besetzter Gelände«.118 ›Platz schaffen‹, ›räumen‹, ›das Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum‹, das Benjamin zufolge den destruktiven Charakter kennzeichnet,119 ist damit auch in der negativen Bewegung einer architektonischen Raumpraxis von konstitutiver Bedeutung.
Freigabe von Räumen heißt jedoch auch, in Fortentwicklung des Gedankens, der in der Tradition des Laokoon sichtbar wird, Leerraum als architektonisches Material zu begreifen und für die ästhetische Raumerfahrung nutzbar zu machen. Daniel Libeskinds ›Voids‹ im Berliner Jüdischen Museum haben sich in genau dieser Weise mit der tendenziellen Bedeutungsresistenz architektonischer Räumlichkeit beschäftigt und das Sinnkontinuum des räumlichen Gefüges, wie Kurt Winkler hervorhebt, in negativer Geste unterbrochen: »An den Durchdringungspunkten von voids und Schauflächen unterbricht die void-Wand den Raumfluß, Material und Beleuchtung wechseln, in schmalen Tunnels gelangt man über den Abgrund, Irritation bricht ein in die reale Welt der Museumsgegenstände.«120
Die Freigabe und Öffnung von Räumen als eine Unterbrechung des sinnhaften räumlichen Gefüges läßt Raum als ästhetisches Material zum Gegenstand einer spannungsreichen ästhetischen Erfahrung werden.
Die Mobilisierung von Raum im Sinne einer tatsächlichen Beweglichkeit eröffnet andere Möglichkeiten der Unterminierung räumlich fixierten Sinns im Zeichen einer negativen Bewegung der Architektur. Die beweglichen Wände im Maison de Verre von Pierre Chareau und Bernard Bijvoet aus den Jahren 1931–32 zeigen dieses Potential paradigmatisch an.121 Der strukturierende Charakter des architektonischen Raumes tritt damit (tendenziell) gegenüber seiner vielfältigen, unvorherbestimmten Aneignung zurück.
Das vertiefte Interesse gegenwärtiger Kunst und Architektur (gerade hier wird die Trennung auch zweifelhaft) an beweglichen Behausungen, wie sie etwa die mobilen Häuser des Ateliers van Lieshout oder die Wohnwagen von Andrea Zittel zum Ausdruck bringen, weist auf die fortdauernde Wirkmächtigkeit einer Raumpraxis hin, die sich fixierbaren Verwendungen entzieht. Raum wird als jeweils konstruierbarer Raum einer flexiblen Praxis erkennbar.
Im Zeichen der medialen Spannung, der die Architektur im Prozeß der Konstruktion unweigerlich ausgeliefert ist (daß sie es nämlich zunächst einmal mit Modellen, Plänen und Skizzen zu tun zu hat, bevor sie überhaupt zu ihrem eigenen Medium, dem gebauten Raum findet) wird auch der Entwurfsprozeß zum Ausgangspunkt einer Öffnung des räumlichen Gefüges. Die Arbeit von Coop Himmelblau ist, wie Anthony Vidler hervorgehoben hat, dafür exemplarisch: »Coop Himmelblaus Projekte entstehen in einem Entwurfsprozeß, der einer Art automatischen Schreibens gleicht, und versuchen, eine unmittelbare Beziehung zwischen Körpersprache und Raum, zwischen dem Unbewußten und dessen Habitat wiederherzustellen.«122
Auf der Ebene der Planung bricht somit eine Spannung zu dem hervor, was ‚Raum‘ als Repräsentation auch aus sich ausschließt: beiläufige, eben nicht geplante Aspekte einer sozialen Verwendungsweise und praktischen Aneignung geplanter und gebauter Räume. Architektonische Raumplanung verweist damit – gleichsam als architecture informelle – auf einen unwillkürlichen und gestischen Prozeß räumlicher Gestaltung.
Während sich jedoch die Öffnung gebauter Räume zur Leere des Raums (die zugleich eine Leere des sinnhaft strukturierten Raumkontinuums anzeigt) sowie die Dynamisierung und Mobilisierung räumlicher Fixierungen (die das Flottieren räumlicher Bedeutung ermöglichen) und ebenfalls ein automatisierter Entwurfsprozeß (der unwillkürliche und gestische Momente in die Raumplanung zurückholt) auf der Ebene der architektonischen Gestaltung von Räumen bewegen, wird auch in der exemplarischen Aneignung von Räumen eine Dynamisierung wirksam, die räumlich fixierten Sinn unterläuft.
Gilles Deleuze hat in seiner Kino-Theorie das Konzept ›beliebiger Räume‹ skizziert, das die mehrdeutige und unabgeschlossene Codierung von Räumen sowie ihren zweckentfremdenden Gebrauch ins Zentrum hebt.123 Beliebiger Raum in diesem Sinne ist kinematographisch inszenierter Raum, in dem die Handlungen der Akteure die im baulichen Gefüge fixierten Koordinaten verwischen und ihn als ein mehrdeutiges ›reines Potential‹ entstehen lassen: »... ein einzelner, einzigartiger Raum, der nur die Homogenität eingebüßt hat, das heißt das Prinzip seiner metrischen Verhältnisse oder des Zusammenhalts seiner Teile, so daß eine unendliche Vielfalt von Anschlüssen möglich wird. Es ist ein Raum virtueller Verbindungen, der als bloßer Ort des Möglichen gefaßt wird.«124
Solcher Möglichkeitsraum entsteht demzufolge durch deutend performative ›Lektüren‹ des Raumes, in dem sein strukturiertes und strukturierendes Gefüge in ungebräuchlicher Weise, zweckentfremdend aktualisiert wird. Deleuze steht dabei auch und gerade ein (legendär gewordenes) räumliches Setting in Jean-Luc Godards Le mépris vor Augen: die Wohnung des Drehbuchautors Paul Javal (gespielt von Michel Piccoli) und seiner Frau Camille (Brigitte Bardot), ein unfertiger, nicht fixierter Raum, der noch nicht vollständig bezogen ist und deswegen auch einem (nahezu) beliebigen Gebrauch offen steht. Godards Streitchoreographie, die Piccoli dreimal hintereinander auf unterschiedliche Art und Weise durch die Tür ohne Türblatt schreiten läßt, steigert diese Mehrdeutigkeit eines möglichen Gebrauchs ins Absurde. Die Wohnung ist hier beliebiger Ort, weil sich ihre Nutzer, abgelenkt durch ihren Streit, über ihre psychagogische Tendenz hinwegsetzen.125
Deleuze’ Akzentuierung beliebiger Räume eröffnet eine Parallele zu Walter Benjamins Konzept des Flaneurs und der darin angezeigten Möglichkeit einer performativen Re-Lektüre räumlicher Bedeutung. Die zerstreute und nicht zweckgerichtete Aneignung des Raumes, läßt ihn als einen neuen, anders gearteten, eben beliebigen Raum entstehen. Die Möglichkeit solcher Aneignung ist selbst in der Gestaltung von Räumen wirksam geworden. Unter anderem haben Constant126 und später John Hejduk Versuche einer Architektur des Umherschweifens unternommen, in der Spielzonen eingerichtet und durch Labyrinthhäuser nichtintentionale, ambivalente Bedeutung erzeugt wurden, die Raum als gezielt beliebig erscheinen lassen.127
Auch diese Praxen stehen im engeren Rahmen der Gestaltung und praktischen Aneignung architektonisch gegliederten Raumes. In der skulpturalen und Objektkunst, in der Wohnraum zunehmend thematisch geworden ist, lassen sich andere, derepräsentationale und distanzierend reflexive Strategien erkennen. Die (im Anschluß an Bruce Nauman erprobten) ›negativen Räume‹ Rachel Whitereads, deren Zementabgüsse von Innenräumen den Bewegungshohlraum als sperrige Blöcke nach Außen wölben, distanzieren assoziationsreich den gewohnten, angeeigneten und genutzten Bewegungsraum. Früherer Wohnraum wird als expliziter Nicht-Bewegungsraum umgekehrt und stellt dabei (eben im Negativ) seine besondere Struktur reflexiv zur Schau.
Auf vergleichbare Weise operiert Gregor Schneiders Totes Haus Ur, das auf der Biennale 2001 für Aufsehen gesorgt hat, weil es eben nur auf denkbar unkonventionelle Weise betretbar war. Es stellt einen kaum noch nützlichen und nutzbaren Raum dar. Zwar tritt die souveräne Geste der Architektur, die Eröffnung neuer Lebensformen in Form leiblich angeeigneter Räume zu verräumlichen, in solcher skulpturalen Kunst zurück. Gleichwohl vermag sie durch ihre distanzierende und deiktische Geste in einer negativen und verfremdenden Bewegung eben jene räumliche Strukturierung diskursiv zugänglich zu machen, auf die sich auch die negative und dynamisierende Geste in der Architektur bezieht.
2 Akos Monravánsky, Die Wahrnehmung des Raumes, in ders.: Architekturtheorie im zwanzigsten Jahrhundert. Eine kritische Anthologie. Wien 2003, S.123
3 Heinrich Wölfflin, Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, in: ders.: Kleine Schriften, Basel 1946, S.15
4 Wölfflin, a.a.O., S.16
5 Wölfflin, a.a.O., S.15
6 Wölfflin, a.a.O., S.15
7 Etwa in den ästhetischen Konzeptionen Hegels oder Schopenhauers, in denen die Architektur gerade deswegen einem niederen Rang hat, weil sie in der dinglichen Welt befangen bleibt und sich nur bedingt in das Reich der Ideen (als Willensverneinung oder absoluter Geist) aufzuschwingen vermag.
8 Wölfflin, a.a.O., S.17
9 Adolf von Hildebrand, Das Problem der Form in der bildenden Kunst, Straßburg 1893
10 August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1894, S.10
11 August Schmarsow, Unser Verhältnis zu den bildenden Künsten, Leipzig 1903, S.66
12 August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1894, S.10
13 August Schmarsow, Unser Verhältnis zu den bildenden Künsten, Leipzig 1903, S.97
14 August Schmarsow, Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, Leipzig/Berlin 1905, S.12
15 August Schmarsow, Unser Verhältnis zu den bildenden Künsten, Leipzig 1903, S.104
16 a.a.O.
17 a.a.O.
18 a.a.O.
19 August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1894, S.15
20 August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1894, S.20
21 August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1894, S.23
22 a.a.O.
23 August Schmarsow, Unser Verhältnis zu den bildenden Künsten, Leipzig 1903, S.54
24 August Schmarsow, Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, Leipzig/Berlin 1905, S.185
25 Fritz Neumeyer, Nachdenken über Architektur. Eine kurze Geschichte ihrer Theorie, in: ders. (Hg.): Quellentexte zur Architekturtheorie, München, S.54
26 August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1894, S.29
27 Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S.158
28 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S.341
29 Bernhard Waldenfels: Leibliches Wohnen im Raum, in: Der Architekt 7–8/03, S.56
30 Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden, Frankfurt a.M. 1997, S.195
31 Bernhard Waldenfels: Leibliches Wohnen im Raum, in: Der Architekt 7–8/03, S.56
32 a.a.O.
33 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S.3
34 Maurice Merleau-Ponty: Vorlesungen I, Berlin 1973, S.5
35 a.a.O., S.55
36 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S.145
37a.a.O., S.296
38 a.a.O., S.152
39 a.a.O., S.17
40 Maurice Merleau-Ponty: Vorlesungen I, Berlin 1973, S.7
41 a.a.O., S.44
42 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S.296
43 Bernhard Waldenfels: Leibliches Wohnen im Raum, in: Der Architekt 7–8/03, S.56
44 a.a.O.
45 Zum Doppelcharakter des Leibes als ›bezeichnender‹ und ›bezeichneter‹ Körper vgl. auch Jean-Luc Nancys Essay Corpus, Berlin 2003, der eine ähnliche Denkbewegung an Merleau-Ponty vollzieht wie Waldenfels – ohne dabei jedoch ebenso ausdrücklich auf Merleau-Pontys Raumkonzept einzugehen.
46 Helmut Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, in: ders.: Gesammelte Schriften, Band IV, hg. von Günter Dux, Frankfurt a.M. 1981
47 Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen, Frankfurt a.M. 1999, S.203
48 Michael Müller, Architektur und Avantgarde. Ein vergessenes Projekt der Moderne?, Frankfurt a.M. 1984, S.40
49 Vgl. dazu die schönen, architekturtheoretisch reflektierten Memoiren von Margarete Schütte-Lihotzky: Warum ich Architektin wurde, Salzburg 2004, in denen das soziale Engagement der funktionalistischen Avantgarde in seiner keineswegs immer naiven Gestalt zum Ausdruck kommt.
50 Julius Posener Kritik der Kritik des Funktionalismus, in: ders.: Was Architektur sein kann, Basel 1995, S.74
51 Walter Prigge,: Raumdebatten in Deutschland seit 1945, in: Tom Fecht/Dietmar Kamper (Hg.): Umzug ins Offene, Wien/New York 1998, S.23
52 Vgl. Lefebvre, Wellmer, Posener
53 Michael Müller, Architektur und Avantgarde. Ein vergessenes Projekt der Moderne?, Frankfurt a.M. 1984, S.85
54 Vgl. Thilo Hilpert, Der Historismus und die Ästhetik der Moderne. Eine Einführung, in: ders. (Hg.): Le Corbusiers Charta von Athen‘. Texte und Dokumente, Braunschweig 1984, S.9–79
55 Le Corbusier, Grundfragen des Städtebaues, Teufen/Ar 1945, S.51
56 Vgl. Julius Posener Kritik der Kritik des Funktionalismus, in: ders.: Was Architektur sein kann, Basel 1995, S.71
57 Vgl. Jürgen Pahl, Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts. Zeit-Räume, München/London/ New York 1999, S.41
58 Damit widerspreche ich Andreas Ruby (Space Time Architecture, in: Fecht/Kamper (Hg.): Umzug ins Offene, a.a.O., S.141), demzufolge Giedion die Zeit-Raumkonzeption von Wölfflin und Schwarsow vernachlässige. Raum werde vor allem bei Schmarsow angeblich als Kino-Raum gedacht, als sequenzielle Abfolge visueller Eindrücke. Das klingt spektakulär, ist aber, wie in der obigen Skizze des Raumkonzepts von Wölfflin und Schmarsow deutlich geworden sein sollte, sachlich nicht richtig.
59 Zur etwas fragwürdigen Suggestion, die diese Synthese beinhaltet, vgl. Moravánsky, a.a.O., S.139
60 Siegfried Gidion,: Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Ravensburg 1965, S.281
61 a.a.O., S.29-33
62 a.a.O., S.280
63 a.a.O., S.311
64 a.a.O., S.317
65 In Architektur und Gemeinschaft ist Giedion dann etwas weniger auf Le Corbusier fixiert. (Vgl. Giedion s.u.)
66 Fredric Jameson hat im»Schicksal der neuen Räume des Le Corbusier«, insbesondere am Beispiel »des Prinzips der freien Fläche« das utopische Ziel des Modernismus überhaupt ausgemacht: die Eroberung neuer (Lebens-)Räume (Fredric Jameson, Postmoderne und Utopie, in: Robert Weimann und Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Postmoderne – globale Differenz, Frankfurt a.M. 1992, S.89). Ergänzt sei, daß sich Corbusiers Strategie zu weiten Teilen mit dem deckt, was anderswo nicht weniger revolutionär und auch nicht weniger programmatisch als »Raumplan« (Adolf Loos), »destruction of the box« (Frank Lloyd Wright) oder »fließendes Raumkontinuum« (Walter Gropius) benannt wurde.
67 Siegfried Gidion,: Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Ravensburg 1965, S.25
68 a.a.O., S.29
69 a.a.O., S.440
70 a.a.O., S.444 ff.
71 Gerd de Bruyn, Fisch und Frosch oder die Selbstkritik der Moderne, Basel/Berlin/ Boston/Gütersloh 2001, S.53
72 a.a.O., S.51
73 Siegfried Gidion, Architektur und Gemeinschaft. Tagebuch einer Entwicklung, Hamburg 1956, S.96
74 Heinz Brüggemann: Architekturen des Augenblicks. Raum-Bilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhundert, Hannover 202, S.310
75 Einschlägig pointiert etwa Thilo Hilpert, daß die CIAM bei ihrer Bestimmung der relevanten urbanen Zonen (Wohnen, Arbeit, Erholung und Verkehr) die Kommunikation als fünfte Dimension der Stadtplanung schlichtweg vergessen haben. (Hilpert, Die funktionelle Stadt. Le Corbusiers Stadtvision; Bedingungen, Braunschweig 1978, S.286).
76 Venturi, Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur, Braunschweig 1978, S.131
77 a.a.O., S.83
78 a.a.O., S.24
79 Edward W. Soja, Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London/New York 1989, S.90
80 Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974, S.220
81 Das situationistische Programm der experimentellen Wiederaneignung des öffentlichen Raumes durch die Erzeugung von Situationen, die den Alltagsfluß stören, weist starke Parallelen zu Lefebvres Philosophie des sozialen Raumes auf. Explizit wird die Engführung von Veränderung des Lebens und Veränderung des Raumes auch bei Guy Debord, dem prominentesten Denker der situationistischen Internationale. In der Gesellschaft des Spektakels heißt es, daß »die proletarische Revolution« grundsätzlich und grundlegend »Kritik der menschlichen Geographie« zu sein hat (Debord, Die Gesellschaft des Spektakels. Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996. Hervorhebung im Original).
82 Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974, S.48
83 a.a.O., S.42
84 Norbert Kuhn, Sozialwissenschaftliche Raumkonzeptionen. Der Beitrag der raumtheoretischen Ansätze in den Theorien von Simmel, Lefebvre und Giddens für eine sozialwissenschaftliche Theoretisierung des Raumes, Saarbrücken (Diss.) 1994, S.76
85 Walter Prigge, Urbanität und Intellektualität im 20. Jahrhundert. Wien 1900, Frankfurt 1930, Paris 1960, Frankfurt a.M./New York 1996, S.166
86 Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974, S.25
87 a.a.O., S.59
88 a.a.O., S.434
89 Corell Wex, Lefebvres Raum: Körper, Macht und Raumproduktion, in: Fecht/ Kamper (Hg.): a.a.O., S.36
90 Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974, S.248
91 Oierre Bourdieu Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen, Frankfurt/M./New York 1991, S.27
92 Bernard Tschumi reflektiert in seinen Lectures on Architecture denselben Zusammenhang, wenn er schreibt: »The sensual architectural reality is not experienced as an abstract object already transformed by consciousness, but as an immediate and concrete human activity«.(Tschumi, a.a.O., S.28)
93 Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974, S.430
94 a.a.O., s.402
95 In romantisierter Darstellung nennt Lefebvre neben spontanen politischen Initiativen und Gemeinschaften, die sich etwa dem Bau einer neuen Autobahn widersetzen, die südamerikanischen favelas als herausragendes Beispiel. Romantisiert ist diese Darstellung vor allem deswegen, weil sie auf die besondere ›Intensität‹ abhebt, die aus jener räumlichen Form der Underclass-Vergesellschaftung hervorgehe – »plus intense que les parties embourgeoisées des villes« (Lefebvre, a.a.O., S.430). Solche Worte stehen in ihrer romantisierenden Nuance durchaus im engen Zusammenhang der zivilisationskritisch angelegten Sozialtheorie Lefebvres. Die allerdings fruchtbare, leitende Unterscheidung von hegemonialen, abstrakten Bedeutungsräumen und differentiellen Gegenräumen wird durch diese (eher unplausible) Vorstellung von kultureller Differenz jedoch meines Erachtens systematisch nicht berührt.
96 Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974, S.22
97 a.a.O., S.416
98 Dadurch ergibt sich eine interessante argumentative Parallele zu Robert Slutzky und Colin Rowe (Slutzky/Rowe 1974 s.o.), die ebenfalls die ›visuelle‹ Verkürzung des Konzepts der Transparenz akzentuiert haben, um dann jedoch – immanent – die ›taktile‹ Transparenz Le Corbusiers hervorzuheben. Lefebvre hat diesen denkbar einflussreichen Text allem Anschein nach nicht zur Kenntnis genommen.
99 Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974, S.361
100 a.a.O., S.350
101 Martin Jay hat auf diese Parallele zwischen Foucault und dem Situationismus hingewiesen. Lefebvre lässt sich hier, zumal aufgrund seiner Nähe zu den Situationisten, problemlos einreihen. (Jay, Downcast eyes. The denigration of vision in twentieth-century French thought, Berkeley 1993)
102 Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974, S.360
103 a.a.O., S.355
104 Henri Lefebvre/Catherine Régulier, Die Revolution ist auch nicht mehr das, was sie mal war, München/Wien 1979, S.72
105 Lefebvre kommentiert die Situationisten emphatisch: „Der utopische Charakter dieses Projekts war kraftvoll und klar zutage getreten, besonders in Fragen der Architektur und des Urbanismus, wo er drauf und dran war, konkrete Gestalt anzunehmen. (Lefebvre/Régulier a.a.O., S. 187) Zu den raumästhetischen Praxen der Situationisten vgl. exemplarisch Kap. 2.3, Irrwege.
106 Immerhin die Verknüpfung von gelebtem, kultiviertem Raum im Einklang mit Kulturlandschaften, kultivierter Natur wird jedoch an diesen Beispielen deutlich, gerade so, wie es auch Adorno als eine ästhetische Versöhnung von Mensch und Natur vor Augen gestanden hat.
107 Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974, S.173
108 Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972, S.332
109 Richard Sennett Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin 1995
110 Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur. Entstehung und Entwicklung einer alternativen Tradition, Stuttgart 1988, dritte, erweiterte Auflage
111 Hanno Rauterberg, Die provozierenden Zwillinge. Minoru Yamasaki baute die Twin Towers und wurde deshalb von Bin Laden verachtet, in: Die Zeit 37/02
112 Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974, S.416
113 John Rajchman Constructions, Cambridge Mass./London 1997, S.42
114 Villem Flusser, Dach- und mauerlose Architektur, in: Fecht/Kamper (Hg.): a.a.O., S.17
115 Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972, S.353
116 Ullrich Schwarz, Space Body Affect, in: Fecht/Kamper (Hg.): a.a.O., S.84.
117 Ernst Hubeli, Vom Objekt zum Nichts, in: Der Architekt 3-4, April 2004, S.51–55
118 Anthony Vidler, UnHEIMlich. Über das Unbehagen in der modernen Architektur, Hamburg 2002, S.33
119 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1971 ff., IV 1, S.396
120 Kurt Winkler, Ceci n’est pas un musée. Daniel Libeskinds Berliner Museumsprojekt, in: Daniel Libeskind: Radix Matrix. Architekturen und Schriften, München 1994, S.123
121 Vg. Aaron Betsky Architecture Must Burn, Corte Madera/Cal. 2000
122 Anthony Vidler, UnHEIMlich. Über das Unbehagen in der modernen Architektur, Hamburg 2002, S.16
123 Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino1, Frankfurt a.M. 1889, S.135-167
124 a.a.O., S.153
125 Das Konzept der Performativen Architektur, wie es unter anderem in der gleichnamigen Leipziger Ausstellung im Herbst 2004 zum Thema wurde, deutet auf diese Dynamisierung des gebauten Raumes hin.
126 Zu Constants New-Babylon-Projekt (1960-1970), das einen in jeder Hinsicht mehrdimensionalen Lebensraum zu verwirklichen suchte, vgl. Sloterdijk (2004, 659 ff.) und Ohrt (1990, 126 f.).
127 Anthony Vidler, UnHEIMlich. Über das Unbehagen in der modernen Architektur, Hamburg 2002, S.264 f.